Thomas Christen im Interview: „Verlieren wir Erinnerungen, verlieren wir auch Identität“

Der Fall Assauer lenkt den Blick auf Alterskrank- heiten. Thomas Christen hat ein Buch über Demenz geschrieben.

Düsseldorf. Die Biografie des Ex-Fußball-Managers Rudi Assauer ist am Donnerstag erschienen. Ein öffentliches Bekenntnis zu seiner Alzheimer-Erkrankung, einer Form der Demenz. Mit dieser hat sich der Düsseldorfer Autor Thomas Christen in seinem Debütroman „Der Abend vor der Nacht“ befasst. Zwei an Demenz erkrankte Männer stehen darin vor den Trümmern ihres Lebens. Christen verarbeitet auch die Erfahrungen aus jahrelanger ehrenamtlicher Tätigkeit mit Senioren in Eller. Im WZ-Interview spricht Christen über seine Erfahrungen und die Macht der Erinnerung.

Herr Christen, warum haben Sie sich ehrenamtlich in der Arbeit mit Senioren engagiert?

Thomas Christen: Sich ehrenamtlich zu engagieren gehört für mich einfach dazu. Es gab aber auch einen Fall in meiner Familie, der verständlicherweise mein Interesse weckte. Ich wollte verstehen, wie es den Menschen geht, was sie und ihre Angehörigen bewegt.

Als Recherche für Ihr Buch?

Christen: Das Buch ist keineswegs autobiografisch. Und doch habe ich beim Schreiben viele Eigenschaften, Verhaltensweisen und Charakterzüge der Menschen im Kopf gehabt, die ich in meiner ehrenamtlichen Arbeit kennengelernt habe.

Gibt es eine Begegnung, die Sie besonders geprägt hat?

Christen: Ich erinnere mich an einen Mann, der immer davon erzählte, wie er die Fugen auf seinem Balkon reinigte. Die Erzählungen wurden irgendwann immer undeutlicher und verworrener. Doch die Menschen um ihn herum unterhielten sich weiterhin mit ihm darüber. Es war faszinierend zu beobachten, wie Kommunikation weiter funktionieren kann, obwohl weite Teile des sprachlichen Ausdrucksvermögens verloren gehen.

Was glauben Sie, welche Rolle spielen Erinnerungen für den Menschen?

Christen: Erinnerungen haben einen maßgeblichen Wert für unsere Persönlichkeit. Verliert ein Mensch den Großteil seiner Erinnerungen, verliert er auch an Identität. Ich kann gewisse Situationen heute nur bewerten, wenn ich mich an frühere Zeiten zurückerinnere.

Was meinen Sie?

Christen: Man kann sich die Frage stellen, ob eine Erinnerung die eigene oder die eines anderen ist. Es ist wichtig, über seine Erinnerungen zu reflektieren, was nicht heißt, dass man in der Vergangenheit lebt. Für einen Demenzkranken ist es sogar essenziell, Erinnerungen ins Gedächtnis zurückzuholen und viel darüber zu sprechen. Es bleibt aber ein Rätsel, warum ein Demenzkranker sich an den Hochzeitstag vor über 60 Jahren erinnert, nicht aber an die Gesichter seiner Kinder.

Verstehen Sie Ihr Buch als Sprachrohr dieser Menschen?

Christen: Es gibt nicht die Zielgruppe „an Demenz erkrankte Menschen“, noch soll der Roman als Handbuch für Außenstehende verstanden werden. Für mich ist die Sprache aber insofern ein Instrument, als dass ich durch sie die Menschen, die den Text lesen, berühren möchte und im günstigsten Fall dazu beitragen kann, dass sie die Trauer um den Verlust dieser Menschen eine Winzigkeit mehr zulassen können.

Und doch ist es ein optimistisches Buch?

Christen: Durchaus. Es ist ein lebensbejahendes Buch. Es geht um verlorene Zeit, um den Verlust von Menschen, Erinnerungen, Gefühlen und sogar Sprache — und darum, mit welcher Stärke, Liebe und Leidenschaft ein Mensch versucht, diese festzuhalten.

Sie beschreiben die Verlorenheit Ihrer Hauptfiguren präzise. Woher haben Sie das Wissen?

Christen: Das Wissen habe ich nicht, das hat niemand. Man kann sich auch nicht einbilden, die Krankheit zu verstehen, nur weil man ein paarmal mit einem Betroffenen gesprochen hat oder Bücher darüber gelesen hat. Man hat als Autor eine gewisse Sensibilität mitzubringen und zu versuchen, sich in diese Personen hineinzuversetzen. Am Ende bleibt auch mein Roman nur eine Mutmaßung.

Warum haben Sie die Handlung nach England verlegt?

Christen: Ich hatte eine grobe Idee für mein Buch, aber inspirierend, nahezu ein Motor war der Ort, an dem ich landete, um das Buch zu beginnen: England. Dort, wo Teile der englisch-niederländischen Seekriege um die Kontrolle der Handelsrouten im 17. Jahrhundert stattfanden, dort kämpfen auch meine zwei Figuren gegen die Krankheit an, gegen den Verlust und das Verschwinden.