Düsseldorf „Warum weinen Machthaber so wenig?“
Der in Neuss aufgewachsene Schriftsteller Marcel Beyer wird mit dem Düsseldorfer Literaturpreis ausgezeichnet. Warum er in Dresden bleiben will, ihn Theater nicht reizt und er so langsam schreibt.
Düsseldorf. Marcel Beyer hat ein enges, intensives Verhältnis zur Geschichte. Und wurde als Jungstar der Literaturszene 1995, fast über Nacht, berühmt mit seinem Roman „Flughunde“, der in 18 Sprachen übersetzt wurde: Darin beschwört er die letzten Tage der NS-Diktatur im Führerbunker unter der Reichskanzlei herauf und macht einen fiktiven Akustiker zum Romanhelden. Damals rühmte ihn der ‚New Yorker’ als einen der „besten Romanciers der Gegenwart“. In letzter Zeit ist es um den — in Neuss und Köln aufgewachsenen — Romancier Beyer, der seit 20 Jahren mit seiner Lebensgefährtin in Dresden lebt, a bissel ruhiger geworden. Der 51-Jährige schreibt heute mehr Opernlibretti, Poetik-Vorlesungen und Gedichte, für die er nun mit dem Düsseldorfer Literaturpreis ausgezeichnet wird. Und daraus am 6. Juni im Heine-Haus vorlesen wird. Die WZ sprach mit dem 1965 geborenen Schriftsteller.
Seit Jahren haben Sie keinen Roman mehr herausgegeben, stattdessen zahlreiche andere Werke. Warum?
Beyer: Ich bin kein Schnellschreiber, ich brauche Zeit für einen Roman, etwa fünf Jahre. Ich bin auf der Suche nach einem Sujet, das mich fünf Jahre fesseln kann.
Sie gehören zu den wenigen westdeutschen Autoren, die seit 20 Jahren in der ehemaligen DDR leben. Warum schreiben Sie mit dieser Erfahrung denn keinen Roman über die Nachwende-Zeit?
Beyer: Ich weiß, viele erwarten das. Immerhin bin ich linksrheinisch sozialisiert, weil mein Vater in den später 60er Jahren als Amerikanist an der Uni Düsseldorf arbeitete und meine Eltern nach Neuss zogen. Aber heute in Sachsen verändern sich die Dinge zu schnell. Wenn ich mit dem Roman 2021 fertig wäre, hätte ihn bereits die Gegenwart eingeholt. Mich würde eher interessieren, wie ein jüngerer Mensch, der die DDR nicht erlebt hat, heute über das Leben hier denkt und schreibt. Oder: Wie stellen sich heute 30-Jährige die Welt vor Internet vor? Außerdem driften Osten und Westen derzeit wieder auseinander. Denken Sie an Pegida, die AFD und die starken Ressentiments gegen die USA, die Rolle Russlands etc. All’ das hätte niemand vor zehn Jahren vorausgesehen.
Sie verfassen heute Texte für Opern. Da liegt nahe, dass Sie vielleicht auch ein Theaterstück schreiben.
Beyer: Kann ich mir nicht vorstellen. Für mich reden die Figuren auf der Theaterbühne zu viel. Bei den Opern reizt mich die Zusammenarbeit mit Komponisten (z. B. Enno Poppe und Manos Tsangaris) und Texte nach musikalischen Prinzipien aufzubauen.
Beobachten Sie als Westdeutscher eine ‚Ostalgie’?
Beyer: Ja, viele denken hier, früher war alles besser. Aber niemand wünscht sich die DDR zurück.
Warum zogen Sie vor 20 Jahren nach Dresden?
Beyer: Damals ging im Westen das Leben weiter. Das kannte ich. Im Osten aber veränderte sich das Leben grundlegend. Ich erlebte eine urprotestantische Mentalität und verstand: die Menschen ticken anders. So ist die Arbeit wichtig fürs Leben; wenn sie hier keine Arbeit haben, fehlt ihnen was. Außerdem hatte meine Lebensgefährtin bereits einen Job in Dresden.
Die DDR galt vor dem Mauerfall als Lese-Land. Fiel vielleicht auch deshalb Ihre Wahl auf den Osten?
Beyer: Damals galt hier die Literatur als Fenster zur westlichen Welt. Heute spielt Literatur eine viel geringere Rolle. Aber dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wieder in den Westen zurückzuziehen. Ich fühle mich in Dresden zu Hause. Wenn ich im Westen (in Köln oder Düsseldorf) bin, muss ich Freunden und Familie vieles im Alltag erklären, was für mich hier selbstverständlich geworden ist. Nur einmal, als vor ca. 18 Monaten die Pegida-Demonstrationen begannen, war ich drauf und dran Dresden zu verlassen.
Sicherlich freuen Sie sich über den Düsseldorfer Literaturpreis. Wie haben Sie davon erfahren?
Beyer: Ja, ich war freudig überrascht. Erfahren habe ich das per SMS. Der Juryvorsitzende schickte sie mir.
Und das Preisgeld von 20 000 Euro — haben Sie schon Verwendungs-Pläne?
Beyer: Ja, das Geld sichert meine Existenz für eine bestimmte Zeit. Ich hoffe, dass ich in dieser Zeit endgültig das Sujet für meinen neuen Roman finden werde.
Inzwischen sind Sie viel auf Lesereise mit ihren Poetik-Vorlesungen, auch zum Thema „Tränen im öffentlichen Raum“.
Beyer: Ja, mich beschäftigt es, warum man so wenige Machthaber weinen sieht. Warum z.B. haben wir viele TV-Bilder mit Joachim Gauck — der mit Tränen ringt oder weint — aber nie eins von Angela Merkel?