Islamistische Propaganda über Social Media kann bei jungen Flüchtlingen ohne Perspektive auf fruchtbaren Boden stoßen, warnen Experten. Wie schon der Extremismusforscher Ahmad Mansour berichteten die Sachverständigen Peter Neumann und Aladin El-Mafaalani vor der „Online-Turbo-Radikalisierung“ durch Tiktok und andere Plattformen. Durch die Algorithmen gerieten jüngere Menschen schnell in einen Strudel und bekämen bei Interesse etwa für den Gaza-Konflikt rasch nur noch Leichen gezeigt.
Islamisten nutzten dies für ihre Ansprache aus. Junge Flüchtlinge, die ohne Perspektive und Integration in den Unterkünften säßen, gerieten leicht in eine persönliche Krise. „Sie haben keine Chance, sich zu integrieren. Das schafft Frust, der von Islamisten ausgenutzt wird“, sagte der in London lehrende Politikwissenschaftler Neumann im Untersuchungsausschuss des Landtags NRW zum islamistischen Anschlag in Solingen im vergangenen August.
In den Unterkünften säßen Kinder und Jugendliche, die bis zu drei Jahre keine Schule besucht hätten, sagte El-Mafaalani von der TU Dortmund. Stattdessen seien sie permanent online. „Die Online-Turbo-Radikalisierung spielt sich innerhalb von Wochen ab. Das macht es für die Sicherheitsbehörden noch schwieriger, dem auf die Spur zu kommen“, sagte Neumann.
Terror wird als Akt der Verteidigung dargestellt
Was Terroristen zum Töten motiviere, sei der Glaube an eine existenzielle Bedrohung. Dies hätten Islamisten und Rechtsextremisten gemein: Die Terror-Attacke werde als Akt der Verteidigung dargestellt. Große Plattformen wie Tiktok reagierten nur auf politischen Druck. „Da müssen wir viel strenger sein und verlangen, dass problematischer Content binnen 24 Stunden entfernt wird“, so Neumann.
Als erster Zeuge im Untersuchungsausschuss sagte Bundespolizei-Präsident Dieter Romann aus. Nach der gescheiterten Abschiebung des späteren mutmaßlichen Attentäters im Juni 2023 durch dessen Untertauchen habe die Bundespolizei erst wieder nach dem Anschlag in Solingen von ihm gehört, sagte Romann.
Dublin-System in der Kritik
Das Dublin-System der Rücküberstellung von Asylsuchenden in die Erstaufnahmeländer sei seit Jahren dysfunktional, sagte Romann. Die Zahl der real erfolgten Rücküberstellungen in andere EU-Länder habe im vergangenen Jahr bei 7,8 Prozent der Ersuchen gelegen. In Bezug auf Bulgarien, wohin der mutmaßliche spätere Attentäter überstellt werden sollte, liege die Quote bei 3,6 Prozent. Dafür gebe es eine ganze Reihe von Gründen. Die Dublin-Bilanz weise ein „tiefrotes Minus aus“.
Am 23. August vergangenen Jahres soll der abgelehnte Asylbewerber Issa Al H. auf einem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt haben. Er sitzt unter Mordverdacht in Untersuchungshaft. Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) hatte den Anschlag für sich reklamiert. Ein Bekenner-Video des Syrers wurde über einen IS-Kanal veröffentlicht.
Der Untersuchungsausschuss des Landtags NRW soll mögliche Versäumnisse und Fehler der Landesregierung untersuchen sowie strukturelle Defizite bei Abschiebungen und Rückführungen in andere EU-Länder unter die Lupe nehmen.
© dpa-infocom, dpa:250317-930-406145/2