Der Mensch ist offenbar nicht auf Dauerkrise programmiert – ein Psychologe hat eine Idee, was helfen könnte Freiheit in Corona-Zeiten
KÖLN/BOCHUM · . Wolfgang Niedecken hatte schon immer ein besonderes Verhältnis zu den Rolling Stones, und deshalb trägt er in Corona-Zeiten einen Mundschutz mit dem berühmten Zungen-Logo der britischen Band. Kommt richtig gut.
Aber das ist auch schon alles, was er der Pandemie abgewinnen kann. Eigentlich wollte er diesen Sommer nach Kreta. Und nächstes Jahr auf Tournee. Alles auf Eis.
„Wir müssen aufpassen“, sagt der BAP-Sänger, während er auf einem schwimmenden Bootshaus auf dem Rhein sitzt, ganz asketisch bei einem Glas Wasser. „Wir waren jetzt in Berlin“, erzählt er. „Und was da in Mitte in den Kneipen los war: Als wenn es Corona nicht gäbe! Das wird nicht gut gehen. Wir müssen aufmerksam bleiben. Wir müssen Geduld haben.“
Geduld. Genau die können viele nicht mehr aufbringen. „Wir sind ungeduldig“, sagt der Psychologe Jürgen Margraf von der Ruhr-Universität Bochum. „Und wenn die Ergebnisse nicht sofort deutlich sind, dann lassen wir uns nicht so sehr davon beeinflussen. Wir haben ja bei Corona die Situation, dass die Gefahr nicht direkt sichtbar ist.“
Da kann sich das Robert Koch-Institut (RKI) angesichts steigender Infektionszahlen noch so besorgt zeigen: Das Gefühl der Bedrohung hat sich für viele Bürger verflüchtigt. Wenn über Corona gesprochen wird, dann oft so: „Und, hattet ihr einen Krankheitsfall in der Familie?“ – „Nein, persönlich kenne ich keinen.“ – „Wir auch nicht.“ Das trägt dazu bei, dass die Gefahr als sehr abstrakt wahrgenommen wird – zumal die Fallzahlen ja auch tatsächlich immer noch viel geringer sind als auf dem Höhepunkt der Krise im Frühjahr.
Damals waren die Straßen selbst im Zentrum von Berlin oder München gespenstisch leer. „Ganz am Anfang war es das große Unbekannte, da hatte jeder Angst“, erläutert Margraf. Das Fernsehen brachte beinahe täglich erschütternde Bilder, etwa vom Abtransport von Corona-Toten in Norditalien. Inzwischen kann man wieder in Italien Urlaub machen.
Mit dem Sommer ist das Leben zurückgekehrt. In Straßencafés oder Biergärten ist oft keine Maske mehr zu entdecken. Es sieht alles nach Normalbetrieb aus. „Heute glauben Menschen eher, dass sie das eigene Risiko besser einschätzen können“, erläutert der Sozialpsychologe Malte Friese von der Universität des Saarlandes. „Man hat eher wieder das Gefühl, Herr der Lage zu sein.“
Auf eine Dauerkrise ist die menschliche Psyche auch nicht eingestellt – irgendwann will man wieder relaxen. „Man kann ganz schwer über einen langen Zeitraum in einem Alarmmodus bleiben“, erklärt Friese. „Man muss sich das vorstellen wie einen ansteigenden Berg. Man kann den Großeltern mit der Zeit immer weniger vermitteln, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen sollen. Und so ist es mit allen Dingen, auf die man verzichten muss. Subjektiv wird das immer schwerer.“
Dazu kommt: „Die Kosten der Prävention, die liegen sozusagen bei mir“, erläutert Margraf. „Ich schwitze unter der Maske, und das ist unangenehm. Der Nutzen, der kommt vielleicht und viel später und mit größter Wahrscheinlichkeit nicht bei mir, sondern bei jemand anderem.“
Auch in einer anderen Hinsicht treten die Kosten der Prävention heute deutlicher zutage als noch im März oder April. Friese: „Wir sehen jetzt viel klarer: Was bedeutet es eigentlich, wenn das kulturelle Leben weitgehend zum Stillstand kommt? Wenn Leute ihre Jobs verlieren oder in Kurzarbeit gehen? Wenn Freunde finanzielle Schwierigkeiten haben? Was auf der Gegenseite steht, das wird einem heute viel stärker bewusst als am Anfang. Jetzt ist es mehr wie so eine Waage, und da liegt eben auch etwas auf der anderen Seite.“
All das trägt dazu bei, dass die Selbstdisziplin nachlässt. Man will ja auch nicht als überängstlich gelten. Hin und wieder kommt es vor, dass einem jemand zur Begrüßung doch wieder die Hand entgegenstreckt: Lehnt man das dann unter Hinweis auf die Hygiene-Etikette ab – oder denkt man sich: „Ach, wird schon gut gehen“? Zumal es bei den meisten – so eine gängige Haltung – ja doch nicht so schlimm werden würde.
Doch genau vor dieser Annahme warnen Ärzte. „Egal wie jetzt die Sterberate ist, wir müssen damit rechnen, dass viele Erkrankte Langzeitfolgen haben werden, seien es Lungenschäden, seien es Autoimmun-Erkrankungen, sei es Asthma“, erläutert Lungenfacharzt Heinz-Wilhelm Esser.
Margraf hat gerade eine repräsentative Studie abgeschlossen, für die in acht Ländern jeweils 1000 Menschen zum Umgang mit Corona befragt wurden. „Wir sehen, dass die Bereitschaft, sich an die Regeln zu halten, in den Ländern sehr unterschiedlich ist. Am höchsten in Deutschland, am niedrigsten in Frankreich.“ Dort hat Margraf gerade im Urlaub erlebt, dass ihn ein Weinhändler ohne Mundschutz bediente. Darauf von ihm angesprochen, habe der erwidert: „Ich bin ein freier Franzose, und ich werde nie Maske tragen.“
In Deutschland ist die Ausgangslage demnach also im internationalen Vergleich immer noch sehr gut. Und eben hier sieht Margraf auch den Ansatz dafür, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen. „Appelle müssen natürlich sein, aber die reichen nicht, weil unser Bauplan ein anderer ist. Wenn ich Leute dazu bringen will, Sport zu machen, dann funktioniert es nicht zu sagen: „Du musst das machen, denn sonst wirst du in 30 Jahren vielleicht irgendwas Schlimmes bekommen.“ Was hilft, ist, die unmittelbare Freude am Sport zu entdecken. Man fühlt sich einfach besser, wenn man sportlich aktiv ist.“
In der jetzigen Situation müsste man deshalb nach seiner Überzeugung auf Folgendes abheben: „Mensch, wir haben das so gut hinbekommen hier, so viel besser als in anderen Ländern. Das wollen wir uns nicht kaputt machen.“ Es wäre ein Appell an das Gemeinschaftsgefühl und den Stolz auf das Erreichte. „Das zeigt unsere Studie nämlich auch: Wer sich der Gemeinschaft, der Gesellschaft zugehörig fühlt, der ist eher bereit, sich an die Maßnahmen zu halten. Und der fühlt sich auch besser.“
Voraussetzung dafür wäre allerdings, eigene Interessen auch mal zurückzustellen. Wolfgang Niedecken sehnt das Ende der Pandemie herbei. „Ich leide natürlich“, sagt er, während er vom Bootshaus aus die Züge beobachtet, die über die Kölner Südbrücke in die Ferne rattern. „Wir haben ein schönes Album aufgenommen und wollen das den Leuten vorspielen. Ich lebe immer auf die nächste Tour hin, ich vermisse die Resonanz des Publikums. Aber wichtig ist doch: Wir müssen raus aus diesem interessengelenkten Handeln. Wenn ich jetzt als jemand aus dem Showbusiness sage „Das kriegen wir schon hin. Hauptsache, wir können endlich wieder live auftreten“, dann wäre das grundfalsch. Das wird nicht gehen.“
Er holt einmal tief Luft, und dann sagt er: „Ich weiß, es ist ein schlimmes Wort für einen Rock’n’Roller, aber ich sage es trotzdem: Wir müssen vernünftig bleiben.“