Eine Uhr ist alles, was ihm blieb

Friedrich Sieger ist am 16. April 1945 in Gruiten gefallen. Zwei Stunden später befreiten die Amerikaner die Region: das Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest in Gruiten. Dort wurde der aus Görlitz stammende Soldat auch beerdigt. Seinem Sohn ist von ihm nicht mehr geblieben als eine Taschenuhr.

Winfried Siegers Vater fiel im Zweiten Weltkrieg in Gruiten.  Die Taschenuhr erinnert ihn an seinen Vater.

Foto: Sieger

(isf) Es ist ein schlichter, flacher Grabstein auf einer Wiese. Es ist einer von insgesamt zwölf. Friedrich Sieger, 01.06.1902 bis 16.04.1945 steht darauf. Es ist das Grab eines deutschen Soldaten, der im zweiten Weltkrieg gefallen ist. „Es ist das Grab von meinem Vater, der dort liegt“, sagt Winfried Sieger.

Winfried Sieger lebt in Görlitz. Dort wuchs er mit seiner Mutter und zwei Geschwistern auf. Seinen Vater hat er nie bewusst kennengelernt. 1941 wird er geboren, ein Jahr später wird sein Vater zum Militär eingezogen. Das Grab seines Vaters auf dem Friedhof der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Gruiten-Schöller hat er erst einmal besuchen können. Anlässlich des Volkstrauertags möchte sich Winfried Sieger bei der Gemeinde für die Pflege der Soldatengräber bedanken.

Er erinnert sich noch gut daran, als er das erste und einzige Mal am Grab seines Vaters gewesen ist; ein sehr emotionaler Moment. „Als ich meinem Vater nach so vielen Jahren endlich gegenübertreten konnte, wenn auch nur am Grab, habe ich Rotz und Wasser geheult“, sagt Sieger. „Dass das Grab nach so vielen Jahren überhaupt noch vorhanden ist, das hat mich berührt.“ Das war im Jahr 1993. Zu DDR-Zeiten war ihm ein Besuch nicht möglich.

Friedrich Sieger ist am 16. April 1945 in Gruiten durch amerikanische Maschinengewehrkugeln ums Leben gekommen. Seinem Sohn bleibt eine Taschenuhr als Gedenken. Fotos: Sieger

Foto: Sieger

Der Volkstrauertag ist seit den 1920er-Jahren ein Gedenktag. Eingeführt wurde er ursprünglich durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zum Gedenken an die viele Millionen Opfer des Ersten Weltkriegs. Heutzutage wird am Volkstrauertag an die Kriegstoten und Opfer von Gewaltherrschaft erinnert. Zu den Ritualen des Volkstrauertags gehören bundesweite Kranzniederlegungen und auch Gottesdienste.

Am 19. Januar 1946 erhält seine Mutter Luzie folgenden Brief durch die Reformierte Gemeinde Gruiten: „Es ist mir tief schmerzlich, sehr geehrte Frau Sieger, dass ich Ihnen nach all Ihrem bangen Hoffen und Warten auf eine günstige Nachricht über Ihren Mann die endgültige Mitteilung machen muss, dass er bei den letzten Kämpfen in unserer Gemeinde Gruiten gefallen ist (…). “

Der Nachlass von Friedrich Sieger – einige Briefe, der Trauring und eine Taschenuhr – wurde der Familie nach Görlitz übersandt. Um für ihre drei Kinder in der schweren Nachkriegszeit zu sorgen, sah sich Luzie Sieger gezwungen, den goldenen Ehering, das Einzige, was aus ihrer Ehe übrig geblieben war, für ein Brot einzutauschen.

Doch die Taschenuhr versetzte sie nicht. Die bekam ihr zweitgeborener Sohn Winfried. „Sie hat keinen großen materiellen Wert, aber hat für mich einen hohen Stellenwert“, erklärt der heute 80-Jährige. „2021 habe ich sie überholen und vergolden lassen. Der Goldschmied hat mir geraten, die Geschichte dazu aufzuschreiben.“ Das hat der Görlitzer getan. Denn an den Namen Friedrich Sieger, der von seiner Familie und Freunden auch Fritz, genannt wurde, erinnert sich in Gruiten wohl niemand mehr.

„Mein Vater ging mit zwei Kameraden über ein Feld in Gruiten. Er lief in der Mitte, als ihn plötzlich ohne jegliche Kampfhandlung amerikanische Maschinengewehrkugeln trafen. Er war sofort tot“, weiß Sieger über das Schicksal seines Vaters zu erzählen. Zwei Stunden später rückten die Amerikaner dann in den Ort ein und nahmen die ganze Einheit in Gefangenschaft. Sieger fragt sich immer wieder, was mit seinem Vater geschehen wäre, hätte er diese zwei Stunden überlebt und wäre dann auch in Gefangenschaft geraten und vielleicht auch zu seiner Familie nach Görlitz zurückgekehrt. „Görlitz war aber auch sowjetische Besatzungszone und hier wurden ehemalige NSDAP-Mitglieder verfolgt, verhaftet und in sowjetische Gefangenenlager gesteckt“, berichtet Sieger. „Vielleicht blieb ihm so großes Leid erspart.“

Mittlerweile ist Winfried Sieger 80 Jahre alt. Gern würde er noch einmal das Grab seines Vaters – der dort ewiges Ruherecht hat – in Gruiten aufsuchen, gesundheitliche Gründe hindern ihn allerdings daran. Dennoch ist er der Gemeinde für den Erhalt der Grabstätte seines Vaters sehr dankbar. Sofern Verwandte oder Freunde zufällig in der Nähe von Gruiten und somit in Nähe des Grabmals waren, haben sie in Siegers Namen Blumen am Grab niedergelegt, auch sein ältester Sohn Thomas war schon einmal dort.

Die Taschenuhr hat in all den Jahren das Gedenken an seinen Vater bewahrt. Für dieses Erinnerungsstück hat Winfried Sieger extra ein braunes Holzkästchen angefertigt, in das die Taschenuhr eingefasst ist, mit einem Ständer, der auch ein Passfoto von Friedrich Sieger zeigt.

Dies steht bei Winfried Sieger auf dem Schreibtisch, sodass er täglich auf seinen Vater blickt. „Die Taschenuhr selbst gebe ich eines Tages weiter an meinen jüngsten Sohn Michael“, sagt Sieger. „Vielleicht führt sie ihn eines Tages wieder an das Grab meines Vaters, seines Großvaters.“