Diskussionsformate Wie ein Kölner Verein die Selbstheilungskräfte der Demokratie aktivieren will
Köln · In Köln probiert der Verein „Sprich e. V.“ seit zwei Jahren mit wachsendem Erfolg neue Diskussionsformate aus. Und die Idee strahlt inzwischen in Nachbarstädte aus.
Der ehemalige Friseursalon war einer dieser Kultläden in der Kölner Südstadt. 1986 ist hier das Foto für das Plattencover der BAP-Scheibe „Ahl Männer, aalglatt“ entstanden. Im Text des Titelliedes ging es damals auch um erstarrte Politikrituale. Es ist ein kurioser Zufall des Lebens, dass 32 Jahre später in dem Ladenlokal, einen Steinwurf von der Severinstorburg entfernt, gerade eine Art Experimentierlabor für die Selbstheilungskräfte der Demokratie aufgebaut wird.
Gut zwei Jahre ist es her, dass Fabian Guzzo, Politikstudent und Sprachlehrer für Flüchtlinge, sein Ohnmachtsgefühl angesichts von AfD, Pegida und dem gegenseitigen Anschreien in den TV-Talkshows nicht mehr hinnehmen wollte. Sein Gedanke: „Wir brauchen eine Plattform, wo wir in einen konstruktiven Diskurs gehen.“ Schon ein paar Mal hatte er versucht, über Facebook eine Diskussionsveranstaltung zu initiieren, bisher vergeblich. Aber diesmal gab es schon am nächsten Morgen 1000 Interessenten. Nach drei Tagen war die Zahl auf 3000 gestiegen.
Inspiriert von „Speakers’ Corner“ im Londoner Hyde Park
Gekommen sind dann schließlich 500 an den Aachener Weiher im Westen Kölns. Anregung war der Platz „Speakers’ Corner“ im Londoner Hyde Park. Eine klare Struktur gab es noch nicht, keine Moderation und keine Themenvorgabe, nur ein Mikrofon, ein paar Musiker und die Idee, Hass und Hetze keinen Raum zu geben. Nach einem Dutzend Redebeiträgen und einem kleinen Kulturprogramm war die Premiere vorbei.
Mit den heute einmal im Monat stattfindenden Veranstaltungen unter dem Titel „Köln spricht“ hat das nicht mehr viel zu tun. Inzwischen gibt es einen Verein, ein variables Kernteam von rund 30 jungen Menschen, die sich in der Vorbereitung engagieren, und ein Ablaufgerüst. Im Kern stammen die Unterstützer eher aus dem links-liberalen Spektrum, meist Akademiker, „aber wir werden diverser“, sagt Guzzo. Zu Beginn der Veranstaltung erfolgt ein Monatsrückblick über das, was politisch und gesellschaftlich passiert ist. Dann folgt die Runde „Quatsch dich frei“, in der sich gezielt Menschen im Publikum austauschen sollen, die sich noch nicht kennen. Das Ziel dahinter: Bei der späteren offenen Diskussion gibt es weniger Hemmungen, zur eigenen Meinung zu stehen. „Das Gefühl, ich lasse mich hier nur beschallen, wird abgebaut“, sagt Psychologiestudentin Sarah Maschek.
Wenn im Anschluss drei bis vier Themen diskutiert werden, ist zum Einstieg zwar ein Impulsredner eingeladen, beispielsweise ein Politiker oder Experte. Aber die moderierte Diskussion erfolgt im wörtlichen Sinn auf Augenhöhe: ohne Bühne, ohne Gefälle. Und ohne Pöbelei. „Wenn du jemandem in die Augen blickst, dann funktioniert der Austausch“, sagt Guzzo. Das galt im Einzelfall sogar schon für Rechtsextreme.
400 bis 600 Besucher pro Veranstaltung
Durch die Rahmung der Diskussionen mit Bandauftritten oder Poetry Slams fühlen sich vor allem junge Menschen angesprochen. Bei den insgesamt vier- bis sechsstündigen Veranstaltungen gibt es viel Laufpublikum. Die Idee boomt: Im Sommer kommen bis zu 600 Besucher, im Winter, wenn „Köln spricht“ in wechselnde Räume ausweicht, etwa 400. Etwa zwei Drittel der Teilnehmer sind zwischen 18 und 35. Die Mobilisierung erfolgt über alle sozialen Medien, die Organisation erfolgt komplett ehrenamtlich, weder für Bands noch für Gäste oder Veranstaltungsorte wird Geld bezahlt.
Mittlerweile hat das Projekt bundesweite Aufmerksamkeit erzielt. Beim ursprünglich von „Zeit online“ initiierten Z2X-Festival für junge Visonäre zählte es zu den drei Gewinnerprojekten, auch wenn man in Köln nicht amüsiert ist, dass die „Zeit“ inzwischen eine eigene Dialogaktion unter dem Titel „Deutschland spricht“ vermarktet. Im vergangenen April wurde „Köln spricht“ zudem mit dem erstmals vergebenen SENSS-Award für Streitkultur des Essener Unternehmers Reinhard Wiesemann ausgezeichnet.
An den Methoden, wie kontroverse Themen gewinnbringend diskutiert werden können, feilen die Macher ständig. Je nach Thema werden unterschiedliche Formate gewählt. Es gab einen Workshop zur digitalen Sicherheit und einen Themenabend zur Sexualität. Entwickelt hat sich inzwischen ein breites Instrumentarium an Beteiligungsformen.
Beim pluralistischen Austausch allein soll es dabei nicht bleiben. Am Brüsseler Platz, einem zentralen Treffpunkt im Belgischen Viertel, hat der Verein Moderationsfunktionen übernommen, um einerseits für die katholische Kirche auf dem Platz neue Nutzungsmöglichkeiten zu erschließen und andererseits Interessenkonflikte zwischen Anwohnern und abendlichen Nutzern des Platzes zu klären. So könne die Rückbesinnung auf eine konstruktive Streitkultur zum Eisbrecher für einen in Teilen erstarrten Politikbetrieb werden, hoffen die Organisatoren. Wenn Themen wieder offen diskutiert werden, sagt Vorstandsmitglied Sergej Usov, „ist die Gesellschaft auch reif, das in der Praxis umzusetzen“. Mittlerweile gibt es erste Ableger des Vereins in Düsseldorf, Wuppertal und Bonn.
In der Kölner Südstadt hat „Sprich e. V.“ mit dem Friseursalon jetzt in Kooperation mit einer privaten Musikschule erstmals auch eine eigene Anlaufstelle. Sie ist nicht nur als interner Treffpunkt, sondern auch als Experimentiermöglichkeit für Sonderformate, kleinere Veranstaltungen und Themenabende gedacht. Der wahrscheinliche Name: „Das Ohr – Freiraum zur persönlichen, politischen und musikalischen Entfaltung“.
Das offene Konzept steht für die Hoffnung auf eine weiter offene Gesellschaft. Und auf weitere magische Momente wie den bei der Diskussion über Chemnitz: Da ergriff unvermittelt aus dem Laufpublikum ein früherer Neonazi das Wort und erzählte seine Geschichte. Heute arbeitet er im Verein mit.