ADHS-Expertin: „Pillen sind keine Lösung“
Wenn Kinder auffällig sind, wird oft das Medikament Ritalin verschrieben. Zu Unrecht, meint die Therapeutin Dietburg Amend. Ein Forum will aufklären.
Krefeld. Daniel (Name von der Redaktion geändert) geht in die zweite Klasse und gehört dort zu den besten Schülern. Seine Mutter hätte das niemals erwartet, denn ihr Sohn galt im Kindergarten noch als echtes Problemkind: Daniel war sozial und feinmotorisch stark auffällig. Er hatte Sprachprobleme und konnte sich nicht lange konzentrieren. In einem kinderneurologischen Zentrum diagnostizierten die Ärzte bei ihm unterdurchschnittliche Intelligenz.
Doch der Achtjährige ist alles andere als dumm: "Er ist ein kluges Kind, das erstaunliche Fortschritte macht", sagt die Krefelderin Dietburg Amend, die das Institut für Entwicklungsförderung an der Dießemer Straße 9 leitet. "Und er ist ein Beispiel dafür, wie sehr Eltern, Lehrer und Ärzte mit der stetig wachsenden Zahl auffälliger Kinder überfordert sind."
Amend ist neurophysiologische Entwicklungsförderin und arbeitet seit mehr als zwölf Jahren mit Kindern, bei denen ADS oder ADHS diagnostiziert wurde. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung - mit oder ohne Hyperaktivität - zeichnet sich durch drei Hauptmerkmale aus: "Die Betroffenen leiden unter gestörter Konzentrationsfähigkeit, motorischer Unruhe und impulsivem Verhalten", erläutert die 56-Jährige. "Das hat spätestens in der Schule fatale Folgen: Die Kinder sind unkonzentriert, dauernd abgelenkt, verträumt oder motorisch unruhig und langsam im Unterricht. Viele können keine Tätigkeit zu Ende führen, manche haben lästige Ticks und sind vergesslich."
Studien zufolge sind in Deutschland rund vier bis acht Prozent aller Schulkinder von ADHS betroffen. Für Krefeld heißt das: Im Statistischen Jahrbuch 2008 sind 28.000 schulpflichtige Kinder erfasst, 1120 bis 2240 von ihnen müssten unter dem sogenannten Zappelphilipp-Syndrom leiden, wenn die Zahlen stimmen.
"Behandelt werden diese Kinder meist mit Ritalin", weiß Amend. Das Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat ist konzentrations- und leistungsfördernd. Es wirkt direkt an den Dopamin-Rezeptoren im Gehirn und hat häufig starke Nebenwirkungen. "Sie sind zwar in den meisten Fällen konzentrierter und ruhiger, leiden aber an Übelkeit, Appetitverlust oder Schlaflosigkeit", sagt Amend. "Außerdem weiß man bisher nichts über die Langzeitwirkungen. Die Massenverschreibungen heutzutage gleichen einem riesigen Feldversuch."
Es ist ein Experiment, das eigentlich unnötig ist: Nur die wenigsten Kinder brauchen wirklich dieses Mittel - "und selbst dann nur, um die völlig überforderten und fertigen Eltern zu entlasten", sagt die Therapeutin. "Denn mit Ritalin werden nur die Symptome betäubt, die Wurzeln der Probleme werden nicht angepackt."
Amend selbst verfolgt einen alternativen Ansatz: "Die Ursachen für Lernstörungen und unangemessenes Verhalten, die häufig sofort als ADS oder ADHS diagnostiziert werden, liegen häufig nicht im vermuteten Dopaminmangel", sagt sie. "Zahlreiche Studien belegen, dass Gleichgewichtskontrolle, motorische Fähigkeiten und die Integration frühkindlicher Reflexe mit schulischen Leistungen und dem Verhalten der Schüler in Zusammenhang stehen."
Frühkindliche Reflexe sind während Schwangerschaft, Geburt und im ersten Lebensjahr für das Baby unerlässlich. Sie sind die Basis für die Entwicklung der unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen und Fähigkeiten der Kinder. "Normalerweise ersetzen wir diese Reflexe spätestens nach einem Jahr durch bewusstes Verhalten", erklärt Amend. "Werden sie nicht gehemmt - zum Beispiel wegen Geburtsproblemen, Bewegungsmangel oder ständiger medialer Reizüberflutung -, hat das Folgen: Sie rufen unreifes Verhalten hervor."
Ihren kleinen Patienten und den Eltern bringt Amend Übungen bei, die bei der Hemmung der Reflexe helfen. Mit Erfolg: "Bereits nach sechs Wochen merken fast alle Kinder, Eltern und Lehrer spürbare Fortschritte."