Demenz-WG hat Zimmer frei
Das Wohnzimmer 57 ist ein privates Angebot für Senioren und Alternative zu stationären Heimen.
Marga Ernst ist 80. Das sieht man der rüstigen Rentnerin nicht an. Mit der 87-jährigen Barbara van Well und der 19-jährigen Jessica Heckmann spielt sie an diesem Morgen am großen Tisch Mensch ärgere dich nicht und überbrückt so die Zeit bis zum gemeinsamen Mittagessen. Dass sie allein ihren Alltag nicht mehr meistern kann, wird erst beim Besuch in ihrem eigenen Zimmer erkennbar: An jedem Möbelstück und an jeder dazugehörigen Tür oder Schublade hängt ein gelber Zettel mit dem Hinweis darauf, was es ist und was darin ist. Marga Ernst hat fortschreitende Demenz, wie auch die anderen älteren Bewohner dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft am Frankenring 57.
Im zweiten Stock des Mehrfamilienhauses liegt die 330 Quadratmeter große, helle Wohnung, die bis zu neun Bewohnern Platz bietet und zu der noch ein großer Gemeinschaftsraum, eine Küche mit angrenzenden Balkon sowie ein Badezimmer und ein separates WC zählen. Jeder Bewohner darf hier seinen eigenen Tagesrhythmus haben.
„Wer Langschläfer ist, darf lange schlafen, wer Frühaufsteher ist, steht auf, wenn ihm danach ist, und wer nachts noch gerne bis 1 Uhr Fernsehen schauen möchte, der tut das“, erzählt Pflegedienstleiterin Emine Ludwig. Die private Senioren-Wohngemeinschaft nennt sich „Wohnzimmer 57“ und bietet seit ihrer Gründung im Jahr 2011 familiäres Zusammenleben in den eigenen vier Wänden bei einer Betreuung rund um die Uhr durch unabhängig bestelltes Pflegepersonal, einen Koch und eine Nachtwache.
„Ich bin mit meiner Familie in diesem Jahr zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in Urlaub gefahren“, sagt Monika Effkemann erleichtert. Ihre Mutter, Marga Ernst, lebt seit 2016 in der Wohngemeinschaft und konnte die Entscheidung für den Umzug noch selber mit fällen. Zuletzt war sie nicht mehr vor die Tür gegangen, aus Angst, den Weg zurück nicht mehr zu finden.
Monika Effkemann suchte nach einer Alternative zu einer stationäre Unterbringung. „Dabei bin ich auf das Buch ,Ommas Glück — Das Leben meiner Großmutter in ihrer Demenz-WG’ gestoßen“, erzählt sie. Danach begann ihre Suche nach einer solchen WG in ihrer Nähe. Auch Axel Peter hat für seine Mutter und Julia van Well für ihre Schwiegermutter eine solche Wohnmöglichkeit gesucht. „Und teurer als eine stationäre Unterkunft ist es auch nicht“, rechnet Monika Effkemann vor.
Vor allem aber der Familienanschluss und das weitestgehend selbstbestimmte Leben trotz Demenz begeisterten die Angehörigen. Sie können nicht nur ihre Mütter jederzeit besuchen, sie entscheiden auch weitestgehend über das Programm, Ausflüge, nötige Anschaffungen oder womit sie ihre Angehörigen weiter unterstützen können.
Dass das familiäre Wohnen den an Demenz erkrankten Senioren gut tut, dafür gibt es viele Beispiele. „Beim gemeinsamen Einkaufen und Zubereiten des Mittagsessens fallen der ein oder anderen Bewohnerin längst vergessen geglaubte Rezepte wieder ein und der Appetit wächst auch dabei“, erzählt Emine Ludwig.
Derzeit ist wieder ein Platz in der Wohngemeinschaft frei. Wer einen an Demenz erkrankten Angehörigen dort unterbringen möchte, kann sich direkt beim Initiator und Vermieter, Stephan Gotzes, melden oder an einem der monatlichen Angehörigen-Treffen teilnehmen.