Gericht Ein Tag voller Entscheidungen: unterwegs mit einem Richter
Haft oder Bewährung? Im Gerichtssaal liegt das Schicksal der Angeklagten oft in den Händen eines Menschen. Die WZ hat einen Richter einen Tag lang bei der Arbeit begleitet.
Krefeld. „Es tut mir leid. Ich hoffe, dass ich dafür nicht zu hart bestraft werde“, sagt der 35-jährige Angeklagte. Markus Jonas blickt auf, nickt kurz und schlägt eines der dicken Bücher, die vor ihm stehen, auf. Er blättert. Sonst ist in Saal 216 am Amtsgericht Krefeld kaum ein Geräusch zu hören. Alle warten gespannt. Ganz besonders der Angeklagte — er hatte bei Ebay Handys verkauft und nie geliefert. Für ihn geht es heute um Freiheit oder Gefängnis.
Zwei Mal pro Woche hat Markus Jonas Sitzungstag. An so einem Tag folgt eine Verhandlung der nächsten. Einbruch, Diebstahl, Schwarzfahren, Drogenbesitz — meist geht es eher um Kleinkriminalität. An den anderen Tagen bringt der 34-jährige Strafrichter die gefällten Urteile auf Papier und bereitet kommende Verhandlungen vor. Braucht er für eine Entscheidung noch mehr Zeugen? Haben die Beschuldigten Vorstrafen? Und welche Strafe ist gerecht?
Der 35-jährige Ebay-Betrüger kann aufatmen. Elf Monate auf Bewährung heißt das Urteil. Plus Entschädigung der Opfer. „Ich will Sie hier nicht wiedersehen“, sagt Markus Jonas mit ernstem Gesicht.
Für ihn heißt es jetzt: Akten zurück in den Hefter, neue vom Stapel nehmen, nächster Fall. „Meistens brauche ich ein bis zwei Minuten, um einen Fall auch gedanklich abzulegen“, sagt der Richter. Da es meist nicht um besonders umfangreiche Sachverhalte gehe, sei das kein Problem. Was für ihn Routine ist, ist für die meisten Menschen auf der Anklagebank entscheidend — für das Berufsleben, die Familie, den persönlichen Lebenslauf.
„Erzählen Sie doch mal. Was ist da passiert?“, fordert er den Mann, der als nächstes vor ihm sitzt, auf. „Ich war fix und alle“, sagt der. Als sein Arbeitgeber ihn beschuldigt habe, Schuhe aus dem Lager gestohlen zu haben, sei er aus allen Wolken gefallen. 16 Jahre habe er bei der Firma gearbeitet. „Ich hatte doch gefragt. Mein Teamleiter hat ,Ja’ gesagt“, sagt er. Sein Chef sieht das anders. Aber wer sagt die Wahrheit? Das lässt sich heute nicht mehr klären. Mehr Informationen sind nötig.
Markus Jonas, Richter
„Wenn ich Schwierigkeiten hätte, mich zu entscheiden, wäre ich hier wohl falsch“, sagt der Richter. Viele der Entscheidungen tauchten aber immer wieder auf. Die großen natürlich: Haft, Freiheit oder Bewährung? Aber auch kleinere: Was zum Beispiel tun, wenn ein Angeklagter nicht kommt? Oder: Wer kann noch helfen, die Wahrheit herauszufinden?
Die Wahrheit sucht Markus Jonas im Gerichtssaal nicht in den Gesichtern der Leute, die vor ihm sitzen. Oft blickt er nach unten, hört zu, blättert in den Akten, liest nach, fragt nach, hakt nach. Das Verhandlungsklima findet er wichtig. „Der Angeklagte muss gehört werden. Er darf nicht das Gefühl haben, übergangen zu werden. Dann kann er das Urteil auch besser akzeptieren“, sagt der Richter. Denn auch wenn er kein „Richter Gnadenlos“ ist, kann das manchmal schwierig sein.
So wie im Fall eines 26-Jährigen, der wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in vier Fällen auf der Anklagebank sitzt. Für weitere Fälle ist er bereits verurteilt. „Aber jetzt ist alles anders. Ich gehe zum Psychologen, und meine familiäre Situation ist viel stabiler“, versucht er den Richter zu überzeugen. Seine Frau, die auch im Gerichtssaal sitzt, bekommt im Mai das gemeinsame Kind. „Sie waren schon einmal zur Bewährung verurteilt, und trotzdem haben Sie es nicht eingesehen“, sagt der Richter. Sogar zum Beantragen des Führerscheins im Straßenverkehrsamt ist er selbst mit dem Auto gefahren — und trotz erneutem Hinweis der Mitarbeiter auch zurück gefahren. „Ich will mir nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist. Aber es geht nicht mehr anders“, sagt Markus Jonas. Ein Jahr ohne Bewährung heißt das Urteil. Und das hat Folgen: Bei der Geburt seines Kindes wird der Angeklagte wohl nicht dabei sein können.
„Es ist nie schön, jemanden in Haft zu schicken“, sagt Markus Jonas später. Von Mitleid müsse er sich aber in den Verhandlungen trotzdem frei machen. „Die Menschen, die da vor mir sitzen, müssen verstehen: Das betrifft dich. Du musst dich bessern“, sagt er. Markus Jonas ist seit August Strafrichter. Von Kollegen weiß er: Viele der Angeklagten werden ihm wohl mehr als einmal gegenüber sitzen. „Ich hoffe trotzdem, dass ich einige von ihnen erreichen kann.“