Flucht: 15jähriger Amir kam aus Teheran nach Krefeld
Amir ist 15 Jahre alt, als er alleine aus dem Iran flüchtet. Kontakt hat er heute kaum zu seiner Familie in Teheran, dafür eine neue Heimat in Krefeld gefunden. Er schaut voller Hoffnung in die Zukunft.
Krefeld. Schnee. Das ist das erste, woran Amir sich erinnert, wenn er von seiner Ankunft in Krefeld erzählt. Im November 2010 muss das gewesen sein, die Details seiner Flucht aus Teheran — eine mehrere Monate dauernde Odyssee, die in seinem Heimatland Iran begann und am Niederrhein endete — will der 21-Jährige am liebsten vergessen.
Heute, gut fünf Jahre später, sitzt da am Tisch in der Gesamtschule Kaiserplatz ein junger Mann, der in diesem Jahr sein Abitur machen und danach studieren will, der viel lacht und schnell redet — und sich dabei immer wieder in seiner Vergangenheit verliert. Unterdrückung und Todesangst, das sind die Puzzleteile, aus denen sich Amirs Geschichte zusammensetzt.
Angst vor der „Basidschi“, der inoffiziellen, konservativen Hilfs- und Glaubenspolizei im Iran, die auch dafür bekannt ist, religiöse Minderheiten in dem muslimisch geprägten Land zu verfolgen. „Im Keller der Moschee wurden Jungs, die die Basidschi beim Alkoholtrinken erwischt haben, so lange geschlagen, bis sie ohnmächtig wurden“, erzählt Amir. Und er erinnert sich an „Leute, die sind einfach verschwunden, weil sie Ärger gemacht haben“.
Und Amir macht Ärger. Dass sich der 15-Jährige in der Schule mit Christen umgibt, gefällt den Basidschi-Anhängern überhaupt nicht. Sie verfolgen und bedrohen ihn, „du kannst denen nicht entkommen“, sagt er. Helfen kann ihm niemand, „meine Mutter hatte selber Angst“. Also flüchtet Amir zu seiner Großmutter, die außerhalb von Teheran lebt. Nur: Bleiben kann er nicht, die Glaubenspolizei ist auf der Suche nach ihm.
Amir beschließt zu fliehen. Allein. In die Türkei, dort will er Arbeit finden. Er nimmt 500 Dollar von seinem Onkel und kauft sich ein Ticket für den Bus, der ihn über die Grenze bringen soll. Ein Glücksspiel, denn Amir besitzt keinen Reisepass. Amir hat Glück. Doch in einem kleinen Dorf hinter der Grenze muss er aussteigen. Der Mann, bei dem er die Nacht schlafen darf und der ihm die Weiterfahrt nach Istanbul organisiert, verlangt für seine Hilfe 250 Dollar.
In Istanbul angekommen, ist das restliche Geld schnell verbraucht — einen Job findet Amir nicht: „Ohne Pass keine Arbeit“, sagt er. Als er aus Verzweiflung seinen Onkel anruft, legt der auf — seine Mutter weint und schreit. „Ich habe bei Wasser und Brot tagelang auf der Straße gelebt.“ Der Onkel schickt kein Geld, dafür aber einen Schlepper, der Amir nach Europa bringen soll. Wohin genau? „Zunächst nach Italien. Die meisten wollten dann weiter nach Belgien“, sagt Amir, „aber ich hatte keinen genauen Plan.“ Hier verschwimmen die Erinnerungen.
Es geht übers Mittelmeer nach Italien und von dort aus in die Schweiz. Mit einer Gruppe Syrer schlägt sich Amir nach Deutschland durch — irgendwann lassen ihn seine Weggefährten alleine im Zug sitzen. Der hält in Konstanz. Amir ist hungrig. Und verzweifelt. „Ich bin über eine lange, dunkle Landstraße gelaufen. Als ich eine Telefonzelle gefunden habe, habe ich die SOS-Taste gedrückt.“ Die Polizisten, die den ausgehungerten Jungen finden, nehmen ihn mit aufs Revier. Zum ersten Mal seit Monaten kümmert sich jemand um Amir. „Die waren so nett zu mir. Sie haben mir sogar Frühstück gemacht und mich am nächsten Tag in den Zug gesetzt.“ Nächster Stopp: Dortmund.
Von dort aus wird er weiter nach Hemer geschickt, bis er schließlich im verschneiten Krefeld ankommt und im Kinderheim Kastanienhof bleiben darf. „Die haben mir sehr geholfen und ich habe ihnen sehr viel zu verdanken. Sie waren immer für mich da“, sagt Amir, der heute — auch dank eines gut funktionierenden Netzwerks aus Menschen, die den jungen Mann in allen Lebenslagen unterstützen — in einer eigenen Wohnung lebt.
Ob er eines Tages zurück in den Iran will? Nein, sagt Amir. Krefeld sei seine neue Heimat: „Hier kann ich einfach ich sein, mich treffen, mit wem ich will und in der Schule meine Meinung vertreten“, sagt er. Er habe Menschen, die seine Familie geworden sind. Und das Wichtigste: „Hier habe ich keine Angst.“