Biografie Ein Krefelder Leben

Joachim Ilbertz, 86, hat ein Leben, und Reinhild Biada schreibt es auf. Vor- und Nachteil zugleich: Der Mann hat ein gutes Gedächtnis. Ein sehr gutes.

Joachim Ilbertz erzählt Reinhild Biada seine Lebensgeschichte.

Foto: Endermann, Andreas

Ich bin mir noch nicht sicher, ob die Idee so schlau war, aber jetzt hänge ich mit drin. Herr Ilbertz am Steuer, Frau Biada auf dem Beifahrersitz, ich auf der Rückbank. Wir wissen beide nicht genau, wo Herr Ilbertz hinwill, jedenfalls über die Berge des Tessin, italienisch-schweizerisches Grenzgebiet, ein sehr schöner Tag, aber auch nicht zu heiß. Das Auto, ein BMW 1600, hat ein Schiebedach, eine große Stereoanlage und gut PS unter der Haube. Die Hupe ist eine Fanfare. Herr Ilbertz schaltet einen italienischen Radiosender ein. Der bringt Beethoven, 5. Klavierkonzert Es-Dur, was wir aber nur wissen, weil Ilbertz es uns sagt. Irgendwann überwältigt ihn das Konzert so sehr, dass er die nächste Möglichkeit rechts ran fährt.

„Und dann habe ich mir das, wie sagt man, so reinzogen.“ Wir fahren dann doch nicht mit ihm Anfang der 60er durchs die Berge, sondern sitzen an diesem Dienstagvormittag im Wohnzimmer von Jochen, eigentlich Joachim, Ilbertz in Hüls. Viele dunkle Möbel, Pendeluhr mit zwei Gewichten, gemalte Bildchen von Blumen, ein Treppenlift. Ilbertz sitzt auf der Ledercouch, seine Hände auf dem Bäuchlein gefaltet, die Beine von sich gestreckt, weißes Hemd, grüne Hose, Glatze, ein 86-Jähriger mit freundlichem Gesicht. Seine Stimme erinnert an den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, seine Wortgewandtheit auch.

Alle zwei Wochen treffen sich
die beiden und Ilbertz erzählt

Regelmäßig fragt er, ob er noch Wasser nachschütten dürfe. Reinhild Biada, 24 Jahre jünger, sitzt ihm mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenüber auf einem Sessel, ein Notizbuch auf dem Oberschenkel, ein Aufnahmegerät auf dem Tisch, blaues T-Shirt, Jeans und Halstuch, konzentrierter Blick. Alle zwei Wochen treffen sie sich. Dann erzählt er aus seinem Leben, sie will daraus bis zum Herbst seine Biografie schreiben, ein Exemplar für ihn, eines für sie. „Geschichtsschreiber“ heißt das Projekt des Arbeiter-Samariter-Bundes Krefeld, das redefreudige Rentner und schreibfreudige Ehrenamtler zusammenbringt. Weil ich darüber schreiben möchte, wie sie sein Leben aufschreibt, sitze ich da eben auch.

Ilbertz erzählt eigentlich nicht, er springt. Und ich habe keine Ahnung, für welche Richtung er sich beim nächsten Sprung entscheidet. Eine Erinnerung löst die nächste aus. Zum Beispiel der Winterurlaub mit seiner zukünftigen Frau. Seine Eltern hielten nichts davon, schließlich waren sie noch nicht verheiratet. Der Nachtzug brachte sie von Düsseldorf nach Montafon, Österreich. Im Café, in das alle Urlauber gingen, hatte sich eine Truppe aus bayerischen Jungs Windbeutel bestellt, intus hatten sie auch schon was. Ilbertz’ Freundin störte sich daran, dass sie die Dinger so fest zwischen die Finger packten, bis die Sahne herausquoll. Auf der Karnevalsfeier machte sich Ilbertz einen Spaß mit den Dorfjugendlichen und gab sich als Heiratsvermittler aus. Für das Nachtreffen seiner Reisegruppe fertigte er seiner Frau einen Gipsfuß. Sie solle den anderen erzählen, dass sie sich am letzten Tag noch verletzt habe. Es folgt einer dieser Ilbertz’schen Haken. Das war sekundär, sagt er, denn eigentlich will er doch von Hubert erzählen, den er auf der Reise kennenlernte. Zweiter Chef der Kölner Dombauhütte, ein Steinmetz aus der Slowakei, lebenslanger Freund, der sie später durch den Dom führte, dorthin, wo Touristen nicht hinkommen. „Soll ich zum Hubert noch mehr sagen?“, fragt er Biada.

Kurz darauf sind wir schon wieder im Urlaub, die erste Skireise im Kleinwalsertal. Das Geld war knapp, Ilbertz lieh sich die Skischuhe des Bruders, die um einiges zu groß waren, deshalb brauchte es zwei paar Socken und eine zusätzliche Sohle. Am letzten Abend hatte er nur noch Geld für eine Tasse Kaffee auf der Rückfahrt, als er ein Stückchen Papier im Schnee liegen sah. „Ich heb das hoch, da war das ein 50-Mark-Schein. So viel Geld, das war damals schon was Besonderes. Das Besondere haben wir nachher auch verarbeitet. Die anderen haben mit von dem Fund profitiert.“ Man trank damals vorzugsweise Wodka mit Kirschen.

Ilbertz erzählt von Menschen, von Orten, von Dingen und Zeiten, die mir nicht geläufig sind. Als ich später meine Aufnahme abhöre, muss ich ständig die Suchmaschine bemühen. Valpolicella? Ein italienischer Rotwein aus der Region Venetien. Boccalino? Ein Weinkrug aus dem Tessin. Manchmal hilft aber auch die Suchmaschine kaum weiter. Das Wort „Plattensortimenter“ führt nur zu einem einzigen Treffer. Ilbertz war so vieles, darunter auch Plattensortimenter, also Plattenverkäufer im Radio- und Fernsehgeschäft seines Vaters, später im Geschäft seines älteren Bruders. Mitte der 60er fuhr Ilbertz zur Fortbildung an die Phonofachschule Bayreuth im Schloss Fantaisie. Ja, man schreibt das so. Eigentlich steht das Schloss nicht in Bayreuth, sondern knapp daneben. Über die Phonofachschule finde ich kaum etwas, unter anderem einen winzigen Artikel in einer US-Musikzeitschrift von 1966, auf dem Cover das britische Popmusikduo Peter & Gordon, das ich auch nicht kenne. So geht das, wenn man Ilbertz folgt. Überall schlägt es Funken, überall lernt man dazu.

Diese Phonofachschule für Plattenverkäufer leitete Sigfrid Hoffmann, ein Klassik-Experte, der ebenfalls kaum Spuren im Internet hinterlassen hat, vor allem, wenn man nach Siegfried statt Sigfrid Hoffmann sucht. Dort brachten sie einem zum Beispiel bei, die richtige Rille für das jeweilige Hauptmotiv eines Klassik-Stücks zu finden. So konnte man im Geschäft dem Kunden gleich die beste Stelle vorspielen. Auf dieser Schule lernte Ilbertz Sigrun kennen, Hoffmanns Tochter. „Man ist sich so weit nähergekommen, dass wir uns verlobt haben.“ Doch es war eine Beziehung auf Distanz, er in Krefeld, sie in Bayreuth. Sie sahen sich nur an einem Wochenende im Monat, sonst schrieben sie sich Unmengen an Briefen. Geheiratet haben sie dann doch nicht.

Ilbertz erzählt Biada und mir nicht nur von seinem Leben, sondern auch davon, wenn es sich mit dem eines anderen Menschen überschneidet. Sigfrid, Sigrun und so weiter. Auch sie erhalten einen Platz im Buch, mehr Platz als im World Wide Web. Weltgeschichte wird ewig erhalten bleiben, wenn auch immer wieder anders erzählt. Menschen, die im dritten Jahrtausend groß geworden sind, bleiben ebenfalls meist digital erhalten, unabhängig von ihrer Lebensleistung. Aber wer heute Rentner ist, der verblasst in den meisten Fällen bald nach seinem Tod. Orte und Plätze, die nicht mehr existieren, verblassen ebenfalls. Weil Ilbertz, Jahrgang 1936, davon erzählt und Biada es festhält, bleiben sie, ein kleines Bisschen jedenfalls. 

Eigentlich wollte Ilbertz sein Leben schon 2021 aufschreiben, da hatte er gerade den Krebs überlebt. „Ich wollte meiner Tochter, meinem Enkelkind sagen: So sind wir, so bin ich groß geworden, meine Freuden, meine Probleme.“ Aber dann merkte er: Ganz schön anstrengend. Zu anstrengend für ihn allein. Als er in der Zeitung vom Projekt des Arbeiter-Samariter-Bundes las, meldete er sich. Biada suchte eine Aufgabe, nach 28 Jahren in der Jugendhilfe kann sie nach einem Unfall nicht mehr arbeiten. Sie schreibt gern Briefe mit der Hand, hat mal ein Kinderbuch veröffentlicht. Im Frühjahr trafen sie sich zum ersten Mal, seitdem regelmäßig. Ilbertz Frau ist dann meist beim Arzt.

Biada wurde gleich reingesogen in sein Leben, als Ilbertz vom Krieg erzählte und von Hetta, dem jüdischen Kindermädchen der Familie. Irgendwann sagte seine Mutter zu ihm: „Die Hetta werden wir jetzt nicht mehr wiedersehen.“ Ilbertz kann sich nicht mehr an Hetta erinnern, aber an diese Worte seiner Mutter. Er weiß sogar noch, wo sie damals standen, vor einem Kohlegeschäfte an der Lewerentzstraße, Ecke Gladbacher Straße.

Biada bewundert die Energie, die er bis heute besitzt. Er arbeitete nicht bloß im Geschäft, sondern kümmerte sich als Rentner um den VIP-Bereich der Pferderennbahn, gab den Hausverwalter für seine Tante. Mit 86 singt er noch im Chor. „Ich genieße die Situation, wenn Herr Ilbertz mich teilhaben lässt an seinem Leben. Ganz ehrlich, ich träume manchmal davon“, sagt Biada. Und er bleibt beim Erzählen aufrichtig. „Der Herr Ilbertz scheut sich nicht davor, sich selber zu begegnen.“ Er gehört wirklich nicht zu den Menschen, die sich kaum noch erinnern können. Vielleicht hat er das geschult, weil er die Nummern der Platten auswendig kannte, die sie damals verkauften. 22181, das stand für die Single „Heimatlos“ von Freddy Quinn. Manchmal erinnert er sich allerdings ein wenig zu sehr, manchmal springt er ein wenig zu viel. Dann kommt Biada im Anschluss nach Hause und sagt zu ihrem Mann: „Der macht mich fertig.“ Schließlich bekommt sie es aber doch wieder hin, ein weiteres Kapitel zu Papier zu bringen.

Biada liest, was sie aufgeschrieben hat

Eines liest sie zum Abschluss des Treffens heute vor. Es geht um die Arbeit im Geschäft seines Vaters, um die Mutter, die mittags Erbsensuppe oder Bohnensuppe brachte, woraufhin sich Vater beschwerte, dass der Laden stinke. Hier unterbricht Ilbertz und sagt, dass sich eigentlich mehr sein Bruder beschwert habe. Auch bei den Erinnerungen an die Fortbildungen im Schloss Fantaisie hakt er ein. Er müsse zum Schloss noch was nachgucken in einem Buch, aber das stehe zu weit oben im Regal. „Ich bin zu klein, ich komm da nicht dran. Mich da auf einen Bierkasten zu stellen, das ist mir zu gefährlich. Den Mann, der mir schon mal die Strümpfe anzieht, werde ich bitten, die Bücher runterzuholen.“ Biada liest weiter, er hört zu, es wirkt, als durchlebe er das alles noch mal. Hat abwechselnd strahlende oder feuchte Augen oder beides zusammen. „Ich weiß nicht, wie das bei den anderen Leuten ist. Ob die auch irgendwann mal Revue passieren lassen?“, fragt er Frau Biada und mich. „Es gibt keinen Anlass, unzufrieden zu sein“, hat er eben schon festgestellt. 53 Jahre verheiratet, eine Tochter, ein Enkelkind. „Wenn ich meiner Frau etwas negativ nachhake, dann, dass sie bei unserer Tochter nicht darauf bestanden hat, dass sie mal anständig Geige spielt.“

Dann noch eine kleine Geschichte. Er gehe einmal in der Woche in die Kneipe, um vier oder fünf Bier zu trinken, „ganz normal“. Da würde er gerne jemanden finden, um ein gutes Gespräch zu führen. Zulabern könne er sich selbst.