Der Weiße Ring Hilfe auch nach Handtaschenraub

Der Weiße Ring existiert seit 40 Jahren. In der Außenstelle in Krefeld engagieren sich zwölf Ehrenamtler. Ein Interview mit Bettina Lindgens, die alles koordiniert.

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Krefeld. Bettina Lindgens ist seit fünf Jahren Mitglied des Weißen Rings und seit viereinhalb Jahren Außenstellenleiterin in Krefeld. Sie macht das ehrenamtlich, auch wenn der Arbeitsaufwand ohne Schwierigkeiten eine Halbtagskraft auslasten könnte. Aber das entspricht nicht dem Konzept der Opferorganisation: Der Weiße Ring setzt auf engagierte Bürger und finanzielle Unabhängigkeit. Der Geldtopf, der die Hilfeleistungen ermöglicht, wird über Mitgliedsbeiträge, Spenden, Erbschaften oder auch durch vom Gericht verhängte Geldbußen gefüllt.

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Frau Lindgens, die Arbeit für den Weißen Ring machen Sie ehrenamtlich. Was machen Sie beruflich?

Bettina Lindgens: Ich habe eine Vollzeitstelle bei der Polizei in Krefeld und führe das Geschäftszimmer im Kriminalkommissariat 11.

Es gibt also Berührungspunkte zwischen Ihren Aufgabenbereichen.

Lindgens: Ja. Das KK 11 beschäftigt sich mit Mord, Totschlag oder auch Sittlichkeitsdelikten. Es ist ja nicht selten, dass sich Polizisten beim Weißen Ring engagieren. Der Weiße Ring und die Polizeibehörde in Krefeld haben einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, in dem wir uns zur gegenseitigen Unterstützung und Information verpflichten.

Wie sieht die Kooperation in der Praxis aus?

Lindgens: Polizisten sind verpflichtet, auf eine Opferschutzorganisation hinzuweisen. Das geschieht häufig, indem sie die Betroffenen auf uns, in diesem Fall also den Weißen Ring, und seine Hilfsmöglichkeiten aufmerksam machen.

Fällt es Ihnen leicht, ihre Aufgaben zu trennen?

Lindgens: Ja, aber die räumliche Nähe und die Tatsache, dass die Kollegen mich kennen, führt aber schon dazu, dass der Kontakt leichter hergestellt wird als früher. Außerdem habe ich Infoveranstaltungen angeboten, um die Kollegen über die Angebote zu informieren.

Wann und wie treten Sie mit den Opfern in Kontakt?

Lindgens: Manche Betroffene melden sich über unser Opfertelefon, andere wiederum kommen über die Polizei oder andere Hilfestellen. Wir sind in Krefeld sehr gut vernetzt. Das Netzwerk funktioniert gut, aber die Kontakte muss man auch pflegen.

Wer macht mit?

Lindgens: Darin sind alle möglichen Stellen vertreten, wie Jugendamt, Frauenberatungsstelle, Arbeitsagentur, Gleichstellungsstelle, die Opferschutzbeauftragte der Polizei oder die PSAG, die Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft Krefeld. Es gibt eine Vielzahl von Arbeitsgruppen. Das Netzwerk ist das A und O.

Wie finden die Opfer da die richtige Stelle?

Lindgens: Wir sind froh, wenn wir die Betroffenen untereinander weitervermitteln können. Ich schicke nie jemanden weg, ohne ihm einen konkreten Ansprechpartner zu nennen. Es ist unangenehm für die Opfer, wenn sie hin- und hergeschickt werden.

Wer ist beim Weißen Ring falsch, wer richtig?

Lindgens: Richtig ist, wer das Opfer einer Straftat ist, egal ob als direkt Betroffener oder Angehöriger. Falsch ist niemand. Wir versuchen immer, weiterzuhelfen.

Sind es immer Opfer von schweren Straftaten, Missbrauch, Mord oder Menschenhandel, Prostitution oder häuslicher Gewalt, mit denen Sie zu tun haben?

Lindgens: Nein. Wir kümmern uns auch um die alte Dame, der am Tag vor Weihnachten vor ihrer Haustür die gesamten Einkäufe gestohlen wurden. In diesem Fall haben wir beispielsweise noch am gleichen Tag alle Einkäufe wieder besorgt. Die weiteren Folgen des Schrecks waren damit natürlich nicht behandelt.

Wie viele ehrenamtliche Helfer hat der Weiße Ring in Krefeld?

Lindgens: Zurzeit sind es zwölf, aber es gibt seit Jahresbeginn eine Hospitanz.

Was macht ein Anwärter?

Lindgens: Mindestens dreimal begleitet der Interessent einen Helfer bei dem Besuch eines Opfers. Er kann prüfen, ob er sich der Aufgabe gewachsen fühlt, und wir schauen, ob wir ihn für geeignet halten.

Gibt es eine Altersgrenze?

Lindgens: Nein, und wir haben manchmal auch junge Menschen, die sich dafür interessieren. Ich bin froh darüber, auch wenn sie oft ausscheiden, sobald eine Ausbildung beginnt. Bedingung für das Engagement ist, dass die Ehrenamtler in Krefeld wohnen.

Wo und wie finden die Treffen mit den Opfern statt?

Lindgens: Oft treffen wir uns bei den Betroffenen zuhause. Das wichtigste in unserem Job ist das Bauchgefühl, und dabei hilft es, sich einen Eindruck von der Umgebung machen. Sinnvoll ist es, einen Hausbesuch zu zweit zu machen.

Warum ist das „Bauchgefühl“ so wichtig?

Lindgens: Wir glauben jedem Opfer, aber wir prüfen schon, ob der Sachverhalt so ist wie geschildert, ob der Mensch also wirklich in Not ist oder ob er nur Geld will.

Gibt es das?

Lindgens: Ja, das passiert. Wir helfen ja vielen Menschen in konkreten Notsituationen wie nach einem Handtaschenraub, indem wir zum Beispiel für eine Fahrkarte sorgen. Es kann auch weitere Unterstützung geben, das hängt von der persönlichen Notlage ab. Bis zu 300 Euro stehen uns für Soforthilfe zur Verfügung. Der Weiße Ring ist auch für den Alltag.

Welche Möglichkeiten haben Sie noch?

Lindgens: Wir können Hilfeschecks für eine anwaltliche oder psychotraumatische Erstberatung ausstellen oder begleiten Opfer zu Terminen bei Polizei oder Justiz.

Wann können Opfer diese Hilfe in Anspruch nehmen?

Lindgens: Wir helfen grundsätzlich, wenn es sich um die Folgen einer vorsätzlichen Straftat handelt, prüfen aber immer, ob es Unterstützung von anderer Seite geben kann.

Wie viele Menschen suchen Ihre Hilfe?

Lindgens: Im vergangenen Jahr haben wir 297 Neufälle gezählt. Dazu kommen die Menschen, die schon länger oder immer mal wieder von uns unterstützt werden.

Das heißt, Sie haben auch Dauerkunden?

Lindgens: Ja, in gewisser Weise. So hat sich eine Betroffene zwei Jahren nach dem Erstkontakt wieder gemeldet, nachdem ihr Antrag auf eine Entschädigung nach dem Opfer-Entschädigungsgesetz abgelehnt wurde. Oder es gibt Stalking-Fälle, in denen Opfer immer wieder belästigt werden und sich bei uns melden.

Warum ist der Weiße Ring wichtig?

Lindgens: Weil wir ein breites Spektrum haben und ohne staatliche Zuwendungen arbeiten. Wir sind unabhängig und frei in unseren Entscheidungen. Aber leider sinken die Mitgliederzahlen, deshalb sind uns besonders junge Mitglieder willkommen.