Reportage Die Hüter des Krefelder Welt-Raums

Krefeld · Einige Jahre wird es noch dauern, bis das „Zeitsprung“ in Linn nicht mehr mit einem Antiquitätenladen verwechselt wird. Denn wahrscheinlich führen die Betreiber etwas viel Besseres im Schilde. Eine Würdigung aus der Zukunft.

Unendliche Weiten — Nicky Schwarzbach und Johannes Trittien verkaufen Gegenstände aus dem Weltraumzeitalter (space age). Und einen alten Holzstuhl.

Foto: Andreas Endermann

Im Jahr 2020 stand an der Rheinbabenstraße in der Linner Altstadt einst ein Geschäft, das die meisten Menschen für einen Antiquitätenladen hielten. Sogar jene, die sich dort umgeschaut hatten. Warum sollten sie auch daran zweifeln? Es standen alte Sachen in den beiden Räumen, an den Sachen hingen Preise. Auf der Visitenkarte war zu lesen: Zeitsprung Antik & Space Age, Ausgesuchtes für Sammler und Liebhaber.

Dabei hätte schon ein Gespräch mit den Ladenbetreibern Zweifel wecken müssen. Johannes Trittien sah mit seinen langen grauen Haaren aus, als moderierte er den WDR-Rockpalast, Nicky Schwarzbach mit den 14 000 Locken, als hätte sie schon 1986 im Publikum gestanden, aber hinten, cool mit dem Fuß wippend. Wenn er redete, dann sprach er auch immer ein wenig zu sich selbst. Sie war in der Lage, in einem Gespräch beiläufig eine Tüte Mäusespeck zu leeren. Die beiden rauchten zu einer Zeit, als es beinahe schon ein Akt des Widerstands war, auch im Haus.

Dinge aus dem Zeitsprung

Foto: Johannes Trittien

Er, geboren 1962, und sie, acht Jahre jünger, hatten sich früh für einen anderen Weg entschieden und waren freischaffende Künstler geworden. Sie schnitt und klebte aus alten Zeichnungen, Gegenständen und Bildern Collagen zusammen, er fügte seinem Material Schäden zu, schnitt Stahlrohre auf. Man konnte das leicht falsch verstehen oder gar nicht verstehen, es gab mit Sicherheit Leute, die gefragt hätten „Ist das Kunst oder kann das weg?“ und sich dabei sehr komisch vorgekommen wären. Aber Schwarzbach und Trittien war es ernst.

2007 kaufte Schwarzbach das Haus an der Rheinbabenstraße, das zuvor die Gaststätte „Alt Linn“ gewesen war. Nicht nur wohnen, auch arbeiten wollte sie dort. Zwei Jahre später eröffnete sie das „Atelier Widerborst“. Als die beiden ein Paar wurden und er zu ihr zog, stellten sie fest, dass sie viel zu wenig Platz hatten für ihre Besitztümer. Beide waren Sammler. Sie kaufte eher aus einem Impuls heraus, er als gelernter Produktdesigner konnte die Dinge benennen. Andere schmeißen in so einer Situation Sachen weg oder versteigern sie bei Ebay. Doch im Haus gab es diesen Raum zur Straße hin, bloß zwölf Quadratmeter groß, für den Schwarzbach noch keine Verwendung gefunden hatte. Im Dezember 2018 eröffneten sie das „Zeitsprung“, das sie auch „Lädchen“ nannten. Sie begannen mit dem, was sie hatten, stellten alte Aschenbecher in den Raum, Zigarettendosen, Fahrradflickdosen, Fabrikuhren, Werbeschilder aus Emaille. Eine Zigarettenfabrik trug den Namen Problem. Eine ihrer Marken hieß Moslem. Also stand auf der Verpackung „Problem Moslem“. Moslems galten aber damals bei niemandem als Problem, sondern als exotisch. Weil sie weiterhin freischaffende Künstler waren, schwer beschäftigt also, öffneten Schwarzbach und Trittien nur sonntagnachmittags von zwei bis sechs.

Dinge aus dem Zeitsprung

Foto: Johannes Trittien

Aus dem Lädchen wurde schnell ein Laden. Sie hatten beide diese Liebe für das Design des Space Age entwickelt. Space Age, das waren knallige Farben, geschwungene Linien, Plastik. So sah selbst der Toaster aus, als gehöre er in ein Raumschiff. Als Startpunkt galt das Jahr 1957, als die Sowjets den ersten künstlichen Erdsatellit in den Weltraum schossen, Sputnik 1, der Beginn der Raumfahrt. Erst mit der Ölkrise von 1973 endete allmählich die Zeit, in der Plastik das Material der Zukunft zu sein schien. Sie beide schätzten die klaren Linien, die einfachen Prinzipien, die Licht-Experimente der Lampen, das Orange.

Und sie hatten noch Platz. Es gab da dieses riesige Durchgangszimmer, das sie mit den Gebrauchsgegenständen des Space Age in Küche, Esszimmer, Wohnzimmer und Büro zugleich verwandelten. Nicht nur deshalb hatte man beim Betreten das Gefühl, schon halb in den Privaträumen zu stehen. Die eigentlichen Wohnräume lagen schließlich drum herum. Zu sehen war dort eine auf dem Trödelmarkt entdeckte graue Arbeitsleuchte von Kaiser, die den Namen „Gazelle“ trug, weil sie lange Beine hatte, die sich verstellen ließen. Eine orange Kugel der Firma Weltron, in der ein Kassettenrekorder und ein Radio untergebracht waren, das sah beinahe aus wie der Helm eines Astronauten. Zwei unten miteinander verbundene Stühle mit Klapptischchen aus dem Konferenzraum des Stuttgarter Rathauses, italienisches Design von Castelli. Eine orange Schneidemaschine für Wurst und Brot von Krups. Aber auch ein Erdnussspender von WMF, dessen Inhalt durch einen Vogelschnabel auf die Hand gelangte. Außerdem viele, viele Lampen an den Decken. Ab und zu riskierten die Betreiber ein Augenzwinkern. Eine Flasche Coca Cola, eine Sonderedition von 1981 zur Hochzeit von Lady Di und Prince Charles, ungeöffnet.

Dinge aus dem Zeitsprung

Foto: Johannes Trittien

Wenn Schwarzbach und Trittien von ihrem Laden erzählten und von den Gegenständen darin, wurde immer klarer, dass sie vermutlich etwas ganz anderes im Schilde führten. Zwar ließen sie die Leute in dem Glauben, dass diese einen Antikladen betraten, aber ihnen konnte das unmöglich genug sein. Sie waren schließlich Künstler, keine Verkäufer. Ein Künstler war nicht nur in seinem Atelier Künstler, er war sogar Künstler, wenn er schlief. Die ganze Welt war ein Atelier. Die beiden hatten beschlossen, sich im „Zeitsprung“ nach keiner Mode zu richten, nach keinem gerade angesagten Vintage-Stil, sie stellten nicht auch noch Landkarten aus dem Erdkundeunterricht von 1987 dazu, weil es alle taten. Obwohl sie geschätzt 2500 Gegenstände in den beiden Räumen untergebracht hatten, stopften sie die Regale nicht voll. Sie wählten aus. Sie stellten die Dinge so auf, dass sie zueinander passten.

Trittien schaute abends schon lange kein Fernsehen mehr, er reparierte und restaurierte. Die Dinge sollten wieder zu dem werden, was sie einst waren. Man sollte sie wieder benutzen können. Gefühlt hatten sie zu jedem Gegenstand eine Geschichte zu erzählen. In einem ihrer Facebook-Postings war einmal zu lesen:

Dinge aus dem Zeitsprung

Foto: Johannes Trittien

„...es gibt Momente – man sieht ein Foto – ein einzelnes Foto, man stutzt, denkt ja, das könnte was sein, da steckt etwas drin, es könnte etwas besonderes sein... man klickt und kauft. Nach wenigen Tagen kommt ein Paket, es wird geöffnet, man schluckt und sagt ok, fängt an zu schrauben“, so geht der Post eine Weile weiter und... „dann der Moment, wo der Stecker in der Dose ist und der erste Klick auf den Schalter erfolgt – man sieht, probiert, man sieht kritischer – und ist glücklich! Da gab es vor irgendwas von siebzig Jahren einen Menschen, der eine Leuchte entwickelt hat, die es drauf hat, witzig, innovativ und einfach nur schön!“

Sie sprachen davon, den Dingen ihren Wert zurückzugeben. Einmal waren sie auf einem Trödelmarkt unterwegs und kauften einer Frau Rosenthal-Gläser für 30 Euro ab. Die Frau war überglücklich und erzählte ihnen, dass alle anderen nur fünf Euro zahlen wollten. Schon damals hätte mehr Leuten klar werden müssen, dass es ihnen genau darum ging, auch wenn sie selbst das nicht offen aussprachen. Der Antikladen war gar keiner im eigentlichen Sinne, sondern eine begehbare Installation, ein über mehrere Räume verteiltes Kunstwerk, das die Leute dazu aufforderte, den Wert einer Sache zu erkennen, wo sie vorher keinen vermutet hatten. Als würden Schwarzbach und Trittien einem die ganze Zeit ins Ohr flüstern: „Schmeißen Sie nicht alles weg, es könnte Ihnen irgendwann wieder gefallen.“

Für das Space Age galt das besonders. Es war nicht so, dass die Leute in den 70ern aus Ehrfurcht vor ihren orangen Krups-Wurstschneidemaschinen in die Knie gegangen waren. Das waren Gebrauchsgegenstände des Alltags. Sie schmissen das Zeug irgendwann weg oder räumten es in den Keller. Nicht, weil es kaputt war, sondern weil es ihnen nicht mehr gefiel. Erst wenn sie die Geräte dann im Laden an der Rheinbabenstraße stehen sahen, fragten sie sich, warum sie nicht alles behalten hatten. Den Dingen ihren Wert zurückgeben. Den Dingen überhaupt mal einen Wert geben. Es braucht Abstand, damit das gelingt. Den Abstand vom Weltraum zur Erde. Den Abstand von den 60ern zum Jahr 2020. Einen Abstand zu einem Laden im Jahr 2020, um zu erkennen, dass er gar kein Laden ist.

Das „Zeitsprung“ (Rheinbabenstraße 132) hat sonntags von 14 bis 18 Uhr geöffnet.