Krefelder Theatergeschichte Erinnerungen an einen Krefelder Theater-Skandal

Krefeld · Peter Handke, Nobelpreisträger für Literatur 2019, schaffte 1966 mit dem Stück „Publikumsbeschimpfung“ den Durchbruch. Die Inszenierung in Krefeld im selben Jahr unter der Regie von Hans Neuenfels sorgte für Tumulte.

 Hans Neuenfels ist ein Star-Regisseur. In jungen Jahren inszenierte er in Krefeld Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“.

Hans Neuenfels ist ein Star-Regisseur. In jungen Jahren inszenierte er in Krefeld Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“.

Foto: dpa/Herbert Neubauer

Am 10. Oktober hat die Schwedische Akademie in Stockholm die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2019 an den Österreicher Peter Handke bekannt gegeben. Diese Nachricht weckte bei Krefelder Theaterfreunden Erinnerungen an einen der größten Skandale auf der hiesigen Bühne. Denn Handkes Stück „Publikumsbeschimpfung“ sorgte in Krefeld 1966 für Jubel bei den Kritikern – aber auch für tumultartige Szenen.

„Publikumsbeschimpfung“ war im gleichen Jahr in Frankfurt unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt worden. Autor Peter Handke lebte zu dieser Zeit in Düsseldorf und war noch weitgehend unbekannt, „Publikumsbeschimpfung“ wurde sein Durchbruch.

Die Krefelder Inszenierung des provokanten Sprechstücks war erst die zweite überhaupt. Der Krefelder Generalintendant Joachim Fontheim hatte dafür den damals 25-jährigen Regisseur Hans Neuenfels verpflichtet.

In Trier war Neuenfels
gerade entlassen worden

Der gebürtige Krefelder und Arndt-Schüler, der nach eigenem Bekunden dem „morastigen Katholizismus des Niederrheins“ entstammt, war kurz zuvor als Oberspielleiter am Theater in Trier entlassen worden, nachdem er in Flugblättern zum Abriss des dortigen Doms, immerhin die älteste Bischofskirche Deutschlands, aufgerufen hatte. Für einen Skandal war der Mann, der sich zu einem der größten und prägendsten Gestalten des deutschen Theaters entwickeln sollte, also schon damals gut.

Das gelang ihm auch in Krefeld mit der „Publikumsbeschimpfung“ vortrefflich. Joachim Fontheim, der gerade mit 44 Jahren der jüngste Generalintendant Deutschlands geworden war, hatte ihm viel Raum für Experimente gelassen. Geprobt wurde nachts, auch die Vorstellungen gingen als „Nachtprogramme“ in die Krefelder Theatergeschichte ein.

Zu Fontheims „junger Garde“ gehörten neben dem Regisseur die Schauspieler Gottfried John, Ulrich Hass, Karl-Friedrich Gerster und Rudolf Brand. Diese standen als vier namenlose Personen auf der Bühne, sprachen zuerst das Publikum an („Hier wird nicht gespielt werden“) und beschimpften es nachher: „Ihr Untermenschen, ihr Kriegstreiber.“

Das bürgerliche Krefelder Publikum Mitte der 1960er-Jahre, also erst 20 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur, reagierte verstört und wütend. Die Premiere endete fast im Tumult, ein Kritiker schrieb anschließend: „Man war außer sich – und man war glücklich.“ Und ein anderer Kritiker urteilte später, die Inszenierung von Peter Handkes Stück habe eine Fackel entzündet, die „bis nach Paris leuchten sollte“ und in der Seidenstadt „strahlende erschöpfte Gesichter“ hinterließ.

Hans Neuenfels, der 2016 den Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ für sein Lebenswerk erhielt und mehrfach „Opernregisseur des Jahres“ wurde, ist Ende der 1990er-Jahre einmal gefragt worden, ob er sich vorstellen könne, noch einmal zurück nach Krefeld zu kommen. Seine lakonische Antwort lautete: „Nach Krefeld komme ich noch nicht einmal zum Sterben zurück.“