Kultur trotz Corona Weltvergessener Musikrausch mit Blind Guardian

Krefeld · Kultur trotz Corona – Diesmal mit einem näheren Blick auf die Krefeld-Meerbuscher Band, deren Musik sehr kathartisch sein kann.

André Olbrich (l.) und Hansi Kürsch von Blind Guardian.

Foto: Dirk Behlau

Es gibt Zeiten, da möchte man sich einfach nur in übertürmende Klangwuchten hineinfallen lassen. Welt- und Sinnvergessen durch Rhythmus, Gesang, Text und treibendem Tonrausch in fantastische Vorstellung entführt, kann sehr reinigend für die Seele, für das innere Gleichgewicht sein. Wie eine große mentale Welle reißt den Hörer, der sich einlässt, der loslässt, die große Kraft durch tiefe Täler und hohe Felsen, enge Schluchten und weite Waldlandschaften – immer eingetaucht in ein neblig bläuliches Licht, an dessen Horizont immer heiß brennendes Feuer lodert. Nach durchfochtenem ästhetischen Kampf sinkt man nieder.

Nun, um derartige und ähnliche Erlebnisse herbeizuführen, ist natürlich das Besuchen eines entsprechenden Konzertes bestens geeignet. Doch, wenn dies nicht geht, können durchaus auch gute Kopfhörer und reichlich stimmungsvolle Raumbeleuchtung ihren Dienst erweisen. Aber von welcher so „orgastisch“ wirkenden Musik sprechen wir hier eigentlich? Gibt es auch unzählige sehr gute Beispiele in traditioneller Kunstmusik – sprich kurz auch „Klassik“ –, man denke beispielsweise nur an Wagner, später auch gigantische Klangfluten Mahlers, und noch später an die vielen sowjetischen beziehungsweise russischen Meister. Und ja, deren Musik kann genauso wirken wie das oben Beschriebene. Aber um die soll es hier und jetzt nicht gehen. Es geht um gewissermaßen eine von vielen Nachfolgern jener großen Kunst, Musik zu machen, die durch „gewaltige“ Kraft und fantastische Geschichten das Publikum aus ihrer Realität heraushebt.

Blind Guardian wird 1984 unter anderem Namen gegründet

Und weil wir bei unseren Empfehlungen für die aktuelle eher auf das Zuhause konzentrierte Zeit hier gerne auf Phänomene mit lokalem Bezug zu sprechen kommen, möchten wir gerne die Gelegenheit nutzen, die 1984 noch als „Lucifer‘s Heritage“ gegründete Band, die seit 1987 Blind Guardian heißt, all jenen ans Herz zu legen, die sie vielleicht noch nicht kennen, aber gerne mal das oben beschriebene Gefühl erleben möchten.

Aber Vorsicht, die Krefeld/Meerbuscher Band ist schon harter Stoff. Aggressiv treibende, schnelle Rhythmen, wild aufheulende E-Gitarren, die hohe Kunst, das Schlagzeug – zumindest gefühlt – über die physikalischen Grenzen hinaus rattern zu lassen wie die Geräusche einer durch üblen Hexenzauber verfluchten Mühle, die so schnell dreht, dass sie eigentlich brechen müsste. Doch in diesem aufwühlenden Schmierstoff aus einer besonderen Art von Metal transportieren sich lyrische, ästhetisch ansprechende auf hübsch – kitschige – Weise an Fiktion von Mittelalter, Fantastik und mysteriöser Parallelwelt erinnernde Motive. Melodien, die den Hörer dazu anregen, von Tolkien’schen Geschichten zu fantasieren, Melodien in ihrer Machart, die dem gar nicht so unähnlich sind, was seinerzeit große alte Meister für ihr Publikum in die Noten schrieben, um es auf weite Reisen durch die Vorstellungskraft zu entführen.

Natürlich sind Blind Guardian, heute bestehend aus den Gründern Hansi Kürsch, Gesang, und André Olbrich, Gitarre, dem Gitarristen Marcus Siepen und dem Schlagzeuger Frederik Ehmke (seit 2005), vornehmlich einer bestimmten Szene zugehörig. Die mit ihren eigenen musikalischen, ästhetischen Regeln spielt. Als Neuling oder jemand, der sich erst heranwagen möchte an diese Musikrichtung, braucht es wie bei so vielen Stilrichtungen ein wenig Zeit, um sich hineinzuhören. Um den eigenen Zugang für sich zu finden.

Wenn man beginnt, hinter den Eigenheiten des Stils, die sich wie eine Folie über alles legen, die individuellen Qualitäten durchzuhören, also zum Kern von Songs und Liedern, schließlich zum Kern einer Band vorzudringen, kann man gerne darüber diskutieren, wie man diese persönlich beurteilen möchte. Doch allein wegen der äußeren klanglichen Erscheinung brüsk zu sagen „Diesen Lärm höre ich mir nicht an“ ist in etwa so, wie in einem Museum zu zeitgenössischer Kunst zu sagen, das könne man auch. Was indes nichts darüber sagt, ob man es nun mag oder nicht – das bleibt und ist Geschmackssache.

Will man sich aber dennoch etwas näher mit Blind Guardian befassen, so gibt es mehrere emphatisch unterschiedliche Zugangswege. Der „sanfteste“ Einstieg ist erst jüngst möglich geworden. Ohnehin hat die Band mit der Zeit eine Entwicklung zum „epischen“, „fantastischerem“, somit wohl auch bewusst „kitschigerem“ Klang durchgemacht. Übrigens eine Ästhetik, die sich durch sämtliche Künste hindurch bis in die dunkleren Ecken der Romantik – hier passt der schön unscharfe kulturgeschichtliche Begriff ganz gut – zurückverfolgen lässt. Schon in den 1990er Jahren plante man ein besonderes Projekt mit einem Symphonie-Orchester, doch aus den Ideen wurde zunächst über Jahre nichts. Erst Ende 2019 sollte das „Orchesteralbum“ Wirklichkeit werden, nach langen Vorbereitungen. „Blind Guardian‘s Twilight Orchestra“ nennt man sich für das Album „Legacy of the Dark Lands”, das durch Texte von dem Fantasy-Autor Markus Heitz inspiriert wurde. Es sei ein Sequel zu seiner Novelle „Die dunklen Lande“.

Man fühlt sich durch den von den Prager Philharmonikern orchestral in Soundtrack-Manier eingespielten Klang in Verbindung mit dem Gesang an Musicals erinnert, die auf spielerische Weise Fantasy-Themen heraufbeschwören. Auch das kann Blind Guardian sein – ist diese Ästhetik auch eine doch eher andere als was man sonst von ihnen erwarten kann, bleibt ihre DNA in den Klängen spürbar. Das Orchester-Album ist bei Streamingdiensten verfügbar. Weitere Informationen gibt es unter: