Geschichte Im Einsatz gegen das Vergessen

Krefeld · Fotoalben, Tagebücher, Briefe und andere persönliche Besitztümer: Nach einem Aufruf der NS-Dokumentationsstelle haben viele Krefelder Erinnerungsstücke von ihren Eltern oder Großeltern in die Villa Merländer gebracht.

Das Kästchen beinhaltet Briefe eines Mädchens, das Anfang 1940 von ihren Eltern aus der Stadt aufs Land geschickt wurde, um Angriffen zu entgehen.

Foto: Bischof, Andreas (abi)

„Liebster Vati! Das wird wohl vorerst der letzte Brief sein . . . .“ Diese Worte sind in schönster Süterlin-Schrift verfasst und lassen im ersten Moment nichts Gutes erahnen. Fast 80 Jahre ist der Brief alt. Er erzählt die Geschichte einer damals jungen Krefelderin, die während der NS-Zeit regen Briefwechsel mit ihren Eltern hegte. „Das Mädchen wurde damals wegen drohender Luftangriffe aus der Stadt geschickt, bei der sogenannten Kinderlandverschickung“, erzählt Sandra Franz.

In einer schön verzierten Box wurden der Leiterin der NS-Dokumentationsstelle in der Villa Merländer die Briefe von der Verfasserin überreicht. Die Schriftstücke dokumentieren nicht nur die Ängste der Schreibenden, sondern zeigen auch, wie sie ihren Alltag unter der Herrschaft der Nationalsozialisten verbrachten und sich auf ihr Wiedersehen freuten.

Für Franz ist das aufschlussreiches und sehr wertvolles Material. Doch die Briefe sind nicht die einzigen „Schätzchen“, die die 37-Jährige vorzeigen kann.

In ihrem Büro liegen auf Tischen und Ablagen verschiedene Relikte aus der NS-Zeit verteilt: Ein Koffer aus Birkenrinde, der in russischer Kriegsgefangenschaft entstanden ist und ein Tagebuch sowie handgeschnitzte Schachfiguren enthält, ein Fotoalbum eines Soldaten, der während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich stationiert war, sowie eine Spange, von der das Hakenkreuz abgefeilt wurde. Bei all diesen Gegenständen handelt es sich um Spenden oder Dauerleihgaben, die der NS-Dokumentationsstelle im Rahmen eines Aufrufs übergeben wurden. „Viele haben uns erzählt, dass sie die Sachen nicht wegwerfen konnten, solange ihre Eltern lebten. Für sie ist unser Aufruf eine gute Gelegenheit, sich von den Dingen nun zu trennen. Auch weil sie wissen, dass alles in gute Hände gelangt“, sagt Franz.

Der Offizier, der zu
einem Befehl Nein sagte

Die Zeitdokumente sollen im nächsten Jahr in einer kleinen Sonderausstellung „Alltag im Nationalsozialismus in Krefeld“ präsentiert werden. „Damit wollen wir aber nicht mit dem Zeigefinger auf jemanden zeigen. Niemand soll hier an den Pranger gestellt werden“, stellt sie klar. „Wir wollen neutral über die Zeit informieren. Hierbei helfen uns die Relikte, die wir bekommen haben, den Alltag der Menschen damals nachzuempfinden oder konkrete Hinweise auf Ereignisse zu bekommen, die in Krefeld passiert sind.“

Auch Rechercheanfragen zu Familienhistorien sind bei den Mitarbeitern der Villa eingegangen. Darunter auch Geschichten, die Franz zeigen, dass nicht jeder in der Wehrmacht ein Täter und somit ein Verbrecher war. Als Beispiel nennt sie den Auftrag eines Offiziers, eines ehemaligen Krefelder Handwerkers, der sich beim Befehl „Verbrannte Erde“ weigerte, eine Talsperre zu sprengen. Dabei handelt es sich um eine Kriegstaktik, bei der eine Armee alles zerstört, was dem Gegner irgendwie nützen könnte. „Indem er Nein sagte, hat er vielen Menschen das Leben gerettet.“

Allerdings setzte er damit sein eigenes aufs Spiel. Denn mit der Weigerung beging er Hochverrat – „und das wurde mit dem Tod bestraft“, erklärt Franz. „Der Offizier konnte aber fliehen und wurde in den letzten Kriegstagen von den Alliierten gefangen genommen.“

Für die Historikerin ist vor allem der Befehl zu der Sprengung interessant. Schließlich muss er irgendwo dokumentiert sein. „Dann können wir den Enkelkindern des Mannes konkrete Hinweise, wie Ort und Datum, nennen“, sagt sie und freut sich über die vielen Begegnungen, die sich nach dem Aufruf ergeben haben.

In Zeiten wachsenden Rechtspopulismus sei ihr die Arbeit, vor allem der Dialog mit anderen, enorm wichtig. So habe sie das Gefühl, „konkret daran zu arbeiten, dass sich die Geschichte nicht wiederholt“. Obwohl die Parallelen erschreckend seien. „Es werden Feindbilder geschaffen, indem man einer Gruppe die Schuld für ein bestimmtes Problem gibt“, sagt sie.

Das komme einem doch irgendwie bekannt vor. Deshalb will sie mit ihrer Arbeit aufklären und gegen das Vergessen kämpfen. Dabei sollen ihr die Relikte der Vergangenheit helfen.