Vor 100 Jahren: Als Gruiten blühte und feierte
Vor 100 Jahren arbeitete fast jeder Gruitener im Ort. Damals gab es zahlreiche Geschäfte und Ausflugslokale mit Sälen, in denen es hoch her ging.
Gruiten. Warum durch die Welt reisen, wenn doch alles vor der Haustür zur Verfügung steht? Zumindest vor 100 Jahren hätte man in Gruiten auf solche Gedanken kommen können. Denn damals gab es noch so gut wie alles in der 2000-Seelen-Gemeinde: Kolonialwaren, Haushaltsgeräte oder auch Maßanzüge für den Herrn. Die Liste der Dinge, die in einem der vielen Geschäfte in der Einkaufstüte landen konnten, ist lang.
„Damals war Gruiten eine Arbeitsstätte mit Ausflugslokalen und Saalkultur“, sagt Lothar Weller, der am Wochenende mit seinen Mitstreitern vom Gruitener Geschichtsstammtisch zur Reise in die Vergangenheit eingeladen hatte. Die „Gruitener Geschäftswelt anno dazumal“ lautete das Motto der Ausstellung, die ihre Besucher tief eintauchen ließ in ein lebendiges Dorf Gruiten mit Fabriken, Geschäften und Ausflugslokalen.
Dass es den Gruitenern damals nicht an Selbstbewusstsein mangelte, lässt sich mit Blick auf das längst geschlossene „Neu-Amerika“ erahnen. Wer einem Restaurant einen solchen Namen gibt, hat eine klare Botschaft: Wir in Gruiten müssen der großen weiten Welt in nichts nachstehen.
Und tatsächlich: Blättert man sich durch die Dorfchronik, wimmelt es nur so von Firmennamen. Elektrosteuerungen Brunz & Co, Kunststofffabrik KU-KA-MA, Weberei Edelhoff. Heute stellt sich die Frage, wie und wo sich in dem jetzt so beschaulichen Örtchen derart viele Gewerbebetriebe ansiedeln konnten. Dazu kommen noch ein Kalkwerk, das von jeder Kuhwiese aus zu sehen war und eine Sinteranlage, die zumindest in den 1920er-Jahren mit dem größten Schornstein Deutschlands von sich Reden machte.
„Damals hat fast jeder Gruitener im Ort gearbeitet und danach wurde gefeiert“, sagt Lothar Weller und erläutert, wie es denn sein konnte, dass es in dem Dorf die Kassen mehrerer Kneipen so gut klingelten, dass einige von ihnen gleich als Familienbetrieb über mehrere Generationen hinweg betrieben werden konnten.
Plagen Gastwirte heute Existenzsorgen, bewirteten sie vor 100 Jahren in großen Sälen hunderte von Gästen. Korn, Saft und anfangs sogar das Leitungswasser stammten aus der Kornbrennerei Borgmann. Auf dem Gut zur Mühle wurde schon vor mehr als 400 Jahren Hochprozentiges gebrannt hat.
Es gab Zeiten, in denen in der Bahnhofskneipe jede Woche mehrere hundert Liter Bier durch den Zapfhahn rauschten, um nicht nur Reisende, sondern auch Einheimische bei Laune zu halten. Parteien, Vereine, Taubenzüchter trafen sich zum Feierabend im Wartesaal der 2. Klasse. Wer Lust auf Pianomusik hatte, ging in den Gasthof Ipsen. Und wer einen guten Kaffee genießen wollte, ging in die Kaffeerösterei Viemann. Dort gab es übrigens nicht nur künstliches Mineralwasser, sondern auch „Krankenwein“.
Gruiten hätte es mit der großen weiten Welt aufnehmen können, wäre da nicht ein kleines Detail gewesen, das nicht so ganz ins moderne Weltengetümmel passte: Beim Friseur Wolf konnten sich die Kunden einen modernen Bubikopf schneiden lassen. Allerdings galt das Angebot nur für Frauen über 60. Lothar Weller: „Der Bubikopf war damals in den goldenen 1920er-Jahren das Zeichen für die moderne und emanzipierte Frau. Das haben sich die Gruitener Friseure dann wohl doch nicht gewagt.“