Ratingen: Die andere Seite des Stadtteils
Porträt: Ludwin Seiwert ist Pfarrer in West. Dass er vor allem die Seelen seiner „Schäfchen“ gut kennt, ist das Erfolgsrezept seiner Arbeit.
Ratingen. Eine Jacke? Ludwin Seiwert winkt ab. "Brauch’ ich nicht", sagt er. "Mir reicht mein Jackett", fügt der 66-Jährige hinzu - und geht voran.
Es geht quer über den Maximilian-Kolbe-Platz, wo seine Gemeinde und die evangelische Kirche nebeneinander liegen. Das Ziel des Pfarrers: der Berliner Platz. "Das ist mein Ratingen."
Kann die Platte ein Lieblingsort sein? Ausgerechnet der Stadtteil, der es doch so schwer hat im Ansehen der Ratinger? Die Antwort: Er kann!
Ludwin Seiwert muss nicht lange überlegen bei der Frage, was für ihn Ratingen ausmacht. Er verweist sofort auf die Hochhäuser - allerdings nicht etwa, weil er sie architektonisch reizvoll findet. "Vielmehr wegen der Menschen, die dort wohnen. Die sind alle etwas Besonderes. Und vor allem sehr in Ordnung."
20 Jahre als Pfarrer in West - klar, dass es da nicht nur leichte Jahre gab. 1996 zum Beispiel wurde Seiwert auch Pfarrer von St.Marien. Aus drei Kirchen wurde eine. Ein Spagat, den die Gemeinde wagte - und schaffte.
Seiwert kennt die Seele der "Westler" genau. Er weiß: "Der Ruf des Stadtteils ist schlecht. Doch die, die hier wohnen, fühlen sich wohl." Die Probleme des Stadtteils seien bekannt: Arbeitslosigkeit, oft auch Perspektivlosigkeit. Doch Seiwert wird nicht müde, von der anderen Seite zu berichten: von Kinderfreundlichkeit, Toleranz und Aufgeschlossenheit. Und von der Normalität, mit der man hier anderen Kulturen begegnet.
Vielleicht ist diese Begeisterung ein Grund dafür, dass das Gemeindeleben in St. Josef so lebendig ist. Wenn Seiwert die Jugend morgens um sechs zur Frühschicht in die Kirche ruft, kommt sie - und feiert mit ihm Messen. Ohne schmückendes Beiwerk, ganz auf das Wesentliche konzentriert. Der Glaube wird auf jugendliche Weise erfahren.
Regelmäßig bittet der Pfarrer außerdem zu Diskussionsabenden mit dem Titel "Glaubensforum". 120 bis 150 Besucher aus West und Tiefenbroich zählt er meist. Andere Meinungen als seine sind da ausdrücklich erwünscht. Seiwert ist ein Mann, der auf den Perspektivwechsel in Bezug auf Glauben oder Nicht-Glauben setzt.
Doch Pfarrer hin oder her - von einem Laster kann auch er berichten. "Ich mag kein Obst und Gemüse", gibt er zu. Doch das ist kein Problem. Der Beweis: die Wanderreisen, die er mit Jugendlichen unternimmt. Oft genug kommt er da fit wie ein Turnschuh ans Ziel - während die jungen Mitreisenden humpelnd hinterherschleichen.