Volkstrauertag in Grefrath Bewegende Notizen aus Auschwitz

Grefrath · Zum Volkstrauertag: Der Grefrather Gottfried Sleegers zeichnet sein Leben in russischer Gefangenschaft in Auschwitz.

Sleegers’ Tagebuch – eine Reise in die bewegende Vergangenheit.

Foto: Familie Sleegers

„Auschwitz“ – der Name steht für den größten Massenmord der Geschichte und fabrikmäßige Tötung. Mehr als eine Millionen Jüdinnen und Juden sowie Menschen aus anderen Opfergruppen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus in den Konzentrationslagern Auschwitz-Stammlager und in Auschwitz-Birkenau ermordet. Am 27. Januar 1945 befreite die Sowjetische Armee die Überlebenden der KZ. Aber die Lager blieben nicht lange leer. Bald wurden dort deutsche Soldaten inhaftiert, die die Rote Armee auf ihrem Vormarsch nach Berlin gefangen genommen hatte.

Einer von ihnen war Gottfried Sleegers aus Grefrath: 1899 in Kaldenkirchen als Ältester von acht Geschwistern einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters geboren. Der fand eine Arbeitsstelle als Zigarrenmacher in Grefrath, und die Familie zog dorthin. Auch Gottfried wurde Zigarrenmacher, arbeitete aber später in Grefrath in der Plüschweberei. Dort wurde sein künstlerisches und zeichnerisches Talent entdeckt. Nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule erhielt Sleegers eine Festanstellung als Musterzeichner für Webstoffe bei Girmes in Oedt.

Gottfried Sleegers heiratete 1927 Katharina Lennackers. Aus dieser Ehe gingen fünf Söhne und eine Tochter hervor. Bei Sohn Herbert fand man nach seinem Tod im Jahre 2018 eine Mappe mit Zeichnungen von Auschwitz, die lange als verschollen galt. Zugehörige Tagebücher von 1945 wurden zuletzt von Sohn Theo aufgehoben. Auch mehrere künstlerische Objekte aus dieser Zeit, zum Teil aus Knochen geschnitzt, fanden sich wieder. Die Familie erkannte die dokumentarische Bedeutung dieses Nachlasses ihres Vaters und übergab 2020 Tagebücher und Zeichnungen dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. In den darauf folgenden Monaten stellten Gottfried Sleegers Sohn Theo sowie die Enkelinnen Andrea und Angela Sleegers die zahlreichen Dokumente zu einem Buch zusammen.

Der abendliche Treffpunkt der Rheinländer.

Foto: Familie Sleegers

Das beschreibt eindrucksvoll, was Gottfried Sleegers von seiner Gefangennahme am 9. Mai 1945 bis zu seiner Entlassung aus dem Lager Auschwitz am 2. September 1945 und seiner Ankunft in Grefrath am 17. September 1945 erlebte. Zusammengestellt aus den Tagebuchnotizen, ergänzt durch Zeichnungen, die der Grefrather im Lager sowie auch nach seiner Rückkehr anfertigte.

Blättern wir nach: Im Sommer 1944 war Gottfried Sleegers zum Kriegsdienst einberufen worden. Als Kraftfahrer und Melder wurde er Anfang 1945 an die Front nach Schlesien und Mähren versetzt. Am 9. Mai 1945 geriet er östlich von Prag in sowjetische Gefangenschaft, und ein fünfwöchiger Marsch nach Auschwitz begann. Bald waren die Füße wundgelaufen; Schuhwerk tragen konnte er nicht mehr. Die Verpflegung bestand oft nur aus einem Stückchen Brot oder einem Kochgeschirr Suppe. In einer Kaserne fand der Zug Hunderter erschöpfter Gefangener endlich eine Unterkunft. 100 Mann zusammengepfercht auf zehn mal fünf Metern. Aber sie hatten endlich wieder ein Dach überm Kopf. Um den Hunger zu unterdrücken, tauschte Gottfried seinen Rasierapparat gegen Zigaretten. Täglich quälte die Sorge um die Liebsten daheim: „Wie mag es der Familie gehen? Sind sie noch in Thüringen, wohin Frau und Kinder evakuiert wurden oder sind sie wieder zu Hause in Grefrath?“ Halt gab Sleegers sein Glaube. In der Kaserne konnten Gottesdienste gefeiert und die Sakramente empfangen werden.

Schlafen in der Baracke.

Foto: Familie Sleegers

In Waggons gesperrt, fuhren die Gefangenen weiter Richtung Osten. Am 13. Juni kamen sie in einem Lager an – wahrscheinlich Auschwitz-Birkenau. Einen Tag später notiert Sleegers: „Den ganzen Tag gestanden und gewartet bis abends nach der ‚Entflohung‘ in einer dachlosen Unterkunft auf Beton … Es gab dünne Lebersuppe und Brot … Habe den Schuh vom rechten Fuß angezogen. Ob es geht?“ Vier Tage später ging es weiter ins Stammlager Auschwitz (Auschwitz I). Am 19. Juni trägt der Grefrather in sein Tagebuch ein: „107 Polen geflüchtet. sieben erschossen – gemeint sind hier polnische Gefangene, die den Russen als „politisch verdächtig“ galten, vor allem um Angehörige der nationalbewussten polnischen Heimatarmee, die nach Kriegsende Widerstand gegen das kommunistische Regime leisteten.

Weitere Notizen folgen, und alle sind sie geprägt von erschütternden Erlebnissen, von Verzweiflung und Not: „Ein Kamerad wegen Brotdiebstahl erschossen … Wie verlangen wir alle nach Hause!“ Ende Juni 1945 kommen in dem Lager 5000 weitere Gefangene an. Am 4. August heißt es im Tagebuch: „Gewitter. Baracke voll Wasser … Heute Steineklopfen. Wie lange noch?“ Der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, wird immer stärker: „Das Heimweh wird größer … Denke viel an zu Hause. Dort ist jetzt Ernte. Dort könnte man sich jetzt sattessen. Meine Lieben! Hoffentlich kommen wir bald zusammen.“ Und zwei Tage später heißt es dann: „Die Parolen sind toll. Immer neue Gerüchte tauchen auf. Wir vom Niederrhein wollen, wenn alles gut geht, in der Heimat zusammenkommen. Hoffentlich erfüllt sich dieser Wunsch in Bälde. Wann, liebe Frau, liebe Kinder werden wir wieder zusammen sein? Gebe Gott, dass es bald ist.“ Und an einer anderen Stelle spricht Gottfried Sleegers aus, was ihn aushalten lässt: „Gott wird die Kraft verleihen, unser Kreuz zu tragen. Mein Schutzengel hat mir im Traum zugenickt. Ich habe Hoffnung und Vertrauen.“ Im Lager wird jetzt Unterricht in Englisch und Russisch angeboten. Da aber der Russischunterricht kaum angenommen wird, wird auch der Englischunterricht nicht mehr genehmigt.

Gottfried Sleegers, hier mit seiner Kamera.

Foto: Familie Sleegers

Der Gefangene zeichnet und schnitzt viel. Die weggeworfenen Knochen aus der Küche werden noch einmal gekocht und dann zum Schnitzen verwendet. Daraus entstehen während der Lagerhaft ein Blümchen für seine Frau Katharina, ein Herz für Tochter Irmgard und ein Brieföffner für Sohn Paul zu dessen Namenstag; und weitere Objekte. Am 15. August findet sich im Tagebuch der Eintrag: „Heute früh mein Gegenüber tot. Tot – verhungert! – Gefangenenlos!“

Ende August 1945 ist die Entlassung aus dem Lager absehbar. Es werden Vorbereitungen für die Abreise getroffen. 800 Österreicher sind am 1. September abgereist. „Es heißt, morgen sind wir dran. Zu Fuß? Alles ist in Aufregung. Wie das gehen soll? Gott mit uns“, lauten die Eintragungen für diesen Tag. Und am Tag drauf, einem Sonntag, erfolgt die Entlassung: „Gott sei Dank. Heute bei Sonnenuntergang schritten wir zum Tor hinaus in die Freiheit. Auf Wiedersehen!“.

Die Nacht verbrachten die Entlassenen auf einer Wiese vor den Toren des Lagers. Dann, am 5. September 1945, erfolgte der Bahntransport: „…auf Dach vom Wagen nach Sagau: Fahrt in der kalten Nacht. Räubereien der Polen an Zivilisten.“ Über Cottbus geht der Heimweg nach Thüringen, wo Sleegers hofft, seine Familie anzutreffen. Sie war hier in einem kleinen Dorf evakuiert. Doch sie waren schon nach Grefrath zurückgekehrt. An der Zonengrenze zwischen Thüringen und Hessen traten Schwierigkeiten auf. „14. September 1945“, lautet eine Bildunterschrift: „Was will der Russe mit uns? Zwei Kölner und ich werden vom Engländer an den Russen ausgeliefert“. Wie die drei die Demarkationslinie trotzdem überwunder haben, ist nicht verzeichnet.

Über Göttingen, Hannover, Essen, Duisburg, Krefeld und Kempen führte die Fahrt nach Hause. Der letzte Eintrag vom 17. September 1945 lautet: „Um 1 Uhr in Grefrath. Gott sei dank!“ Im Herbst 1945 wurde das Gefangenenlager Auschwitz von den Sowjets aufgelöst.