Fakten & Hintergrund Solidarität half aus der Krise
Kempen. · Die Corona-Krise kostet Nerven. Viel schlimmere Entbehrungen kennen einige noch aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren.
Im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges, vor 76 Jahren: Von Lebensqualität kann keine Rede mehr sein. Ersatzstoffe haben die Originalprodukte verdrängt. Wolldecken sind von Holzfasern durchwirkt. Statt Honig gibt’s ein gelbes Gemisch in Pappbechern, statt Zucker Süßstoff; statt Bohnenkaffee wird Muckefuck eingeschenkt. Die Kempener Kaffee-Rösterei Herfeldt, Engerstraße 48, produziert Ersatzkaffee aus Zuckerrübenschnitzeln, am 3. Oktober 1944 stellt sie die Produktion ein. Gemüse gibt’s fast nur noch aus dem eigenen Garten.
Schwerwiegender ist, dass der Stadt die Schuhe ausgehen; die Schuhgeschäfte malen ihre Fenster weiß aus, was heißen soll: „Keine Ware mehr!“ Anfang November 1944 sind Mehl, Salz, Talglichter und Streichhölzer Mangelware geworden. Dafür legen jetzt aufmüpfige Gastwirte fiktive Speise-Wochenpläne aus, voll Spott und Satire. „Fliegeralarmsuppe mit Sirenengeheuleinlage“ wird angekündigt, und „Churchill-Ragout in Kriegshetzersauce“.
Maria Hüpkes verdiente sich mit Schulaufsätzen Lebensmittel dazu
„Im letzten Kriegsjahr gab es immer weniger zu essen“, hat sich die Kempenerin Maria Hüpkes erinnert. 1944 war sie zehn Jahre alt. Am 13. Februar dieses Jahres ist die humorvolle Frau verstorben. Eine Kostprobe aus ihren Erinnerungen: „In der Schule bekamen wir jeden Morgen Schulspeisung: einen großen Schöpflöffel voll wässriger Erbsensuppe. Meine Mädchenklasse bestand fast nur aus Bauernkindern, die genug zu essen hatten. Mein Vater hingegen hatte nur sein Gehalt als Angestellter beim Katasteramt, deshalb war bei uns Schmalhans Küchenmeister. Aber ich wusste mir zu helfen: Meine Hauptbegabung lag im Schreiben von Aufsätzen, und damit verdiente ich mir zusätzliche Verpflegung.“
Fast jede Nacht scheuchen die Sirenen die Menschen in die Luftschutzkeller. Gegen die Strapazen der Bombennächte entwickeln die Kempener grimmigen Humor. In der Stadt kursieren Flugblätter, die zum „Kempener Kellerfest“ einladen. Eröffnet wird die Party durch den „Einleitungsmarsch: Zauber der Sirenen“, dann folgt ein „Riesenfeuerwerk im Freien“. Die Gestapo lässt die Spottdrosseln gewähren, um der Bevölkerung ein letztes Ventil für Angst und Wut zu verschaffen.
Das Durchhaltevermögen der Kempener ist erstaunlich. „Auch wenn wir Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen – trotzdem den Kopf nicht hängen lassen, und ist es noch so schwer!“ schreibt die 20-jährige Kempenerin Marianne Westphal ihrem Mann, der sich in München von einer Verwundung erholt, am 26. März 1944. Und fügt aufmunternd hinzu: „Und immer ein frohes Gesicht!“ Das verliert sie erst, als sie erfährt, dass ihr Schwager Max Westphal schon vor einiger Zeit, am 13. März, in Estland gefallen ist. Als Folge seines Todes erkrankt ihre Schwägerin Fine an einer schweren Nervenkrankheit.
Der Ton in Marianne Westphals Briefen wird ernster, sie zeigt mehr und mehr Anzeichen von Erschöpfung. Aber ihre tapfere Haltung gegenüber Familie und Freunden verliert sie nicht: „Den Mut dürfen wir nicht sinken lassen!“, schreibt sie am 8. September 1944, zwei Monate, nachdem die Alliierten in der Normandie gelandet sind und ihr Bruder Hans, der dort im Einsatz steht, vermisst wird.
Kaplan Hastenrath radelte
den Amerikanern entgegen
Dann ist der Krieg wirklich zu Ende. Von Oedt her stoßen die Amerikaner auf Kempen vor. An der Mülhauser Straße kommt den Panzern der Kempener Kaplan Heinrich Hastenrath, dessen rechtes Bein von der Kinderlähmung gelähmt ist, unerschrocken auf seinem Fahrrad entgegen. Er will nachsehen, ob in den Straßengräben verwundete deutsche Soldaten liegen.
„Hurra, wir leben noch!“ Das ist das Gefühl, das jetzt die meisten Einwohner beseelt. Irmgard und Elisabeth Schmitz, 15 und 17 Jahre alt, wohnen mit der Mutter in der Milchhandlung von Johann und Billa Wahl, Rabenstraße 2. Stolz führen sie die Kleidchen aus, die die Mutter ihnen genäht hat. Weil immer noch kein Strom da ist und die elektrische Teigmaschine nicht läuft, treten die Bäcker nach Urväterart den Teig in einer hölzernen Mulde. „Ich hab’ noch nie so saubere Füße gehabt!“, erinnert sich der Kempener Bäckermeister und Ehrenbürger Karl-Heinz Hermans.
Wenige Monate nach Kriegsende sind in Kempen die ersten Ostflüchtlinge erschienen, ausgehungert und zerlumpt. Anfang Februar 1946 kommt der erste Sammeltransport Vertriebener an: 60 Frauen und Kinder aus Ostpreußen. Am 31. Oktober 1946 gibt es von ihnen in Kempen 933, in St. Hubert 479. Sie sind zunächst in Massenquartieren wie Gasthaussälen untergebracht, ihre Lebensumstände erbärmlich. Aber sie resignieren nicht. Vor allem die Frauen halten die Familien zusammen, bemühen sich um Wohnung und Arbeit. Die Menschen aus dem Osten stehen zusammen, organisieren mithilfe der Kempener Kirchen Vorträge und Weihnachtsfeiern, die erste am 23. Dezember 1946. Viele Bedürftige freuen sich über die einfachen Dinge, Äpfel und Kartoffeln, die Einheimische für sie gesammelt haben.
Die Kempener sammelten für die Vertriebenen Essen und Spielzeug
In der Kreisstadt setzt sich Peter Kother, Kempens Bürgermeister in den ersten drei Nachkriegsjahren, mit Nachdruck für die Ostvertriebenen ein. Für den 28. Oktober 1946 organisiert er eine umfassende Sammlung. Sie soll die Flüchtlinge mit dem Lebensnotwendigen versorgen. „Setzt Euren ganzen Stolz darein, diesen vom Schicksal so schwer Heimgesuchten jede Hilfe zukommen zu lassen!“, appelliert Kother an die Kempener. Die Sammlung wird ein voller Erfolg. In großen Mengen kommen Kleider, Wäsche und Hausrat auf die Tische des katholischen und evangelischen Frauenkreises, werden ausgebessert und zur Verteilung hergerichtet. Auch Kempener Schüler packen mit an, vor allem beim Reparieren der gesammelten Spielsachen.
Schwere Zeiten – aber mit Hilfsbereitschaft, Disziplin und Solidarität haben die Kempener sie bewältigt.