Hohlkreuz, Kopf in den Nacken: Mit 200 Sachen im freien Fall
Mit Gurten und Haken an einen erfahrenen Fallschirmspringer befestigt, stürzt sich unsere Mitarbeiterin in die Tiefe. Ein Erfahrungsbericht.
Grefrath. Unter lautem Knattern des Propellers rennen wir mit zwölf anderen Wagemutigen auf das Flugzeug zu. Cornelius Lehmann schiebt mich die Treppenstufen hoch ins Innere. Wir zwängen uns in die Kabine. Dicht an dicht sitzen wir auf dem Boden — jeweils den Vordermann zwischen den Beinen. Das Flugzeug schraubt sich in kleinen Kreisen in Richtung Absprunghöhe. „4000 Meter“, sagt Lehmann. „Das ist die Sauerstoffgrenze. Noch höher und wir bräuchten ein Beatmungsgerät.“
Ich bin eingepackt in eine Kombi aus dichtem Stoff. Ein Geschirr mit zwei Gurten über der Schulter, zwei um die Beine und einem um die Brust schnürt mich fest. Vier Haken, zwei auf Schulterhöhe und zwei auf Hüfthöhe binden mich an Cornelius Lehmann, meinen Tandem-Master. Der trägt das gleiche Geschirr und zusätzlich einen Rucksack mit einem Haupt- und einem Reserveschirm. „Außerdem haben wir noch einen kleinen Bremsschirm mit einem Meter Durchmesser. Den ziehe ich sofort, wenn wir aus dem Flugzeug gesprungen sind. Der bremst uns auf 200 Kilometer pro Stunde. Sonst würden wir es mit im Tandem auf 300 bringen“, erklärt Lehmann.
„Das dauert etwa 20 Minuten“, sagt er, „dann springen wir.“ Dieser Satz ist wie ein Schlag in meine Magengrube. Und beschwört die ersten Zweifel an meinem Vorhaben herauf. Kurz bevor ich die Angst in Worte fassen kann, schlucke ich sie runter. Hohlkreuz, Kopf in den Nacken, Hohlkreuz, Kopf in den . . . — wie ein Mantra bete ich mir stattdessen den Ablauf vor.
Beine unter das Flugzeug? In 4000 Meter Höhe? Mein Kopf dreht sich zu meinem Tandem-Master. Ich laufe auf Autopilot. „Das ist schon irre, was wir hier machen“, höre ich mich sagen. „Ach was“, sagt der Profi und winkt ab. Er hat schon mehr als 1200 Solo- und 100 Tandem-Sprünge hinter sich. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich eine verdammt weit entfernte Landschaft. Cornelius Lehmann blickt auf den Höhenmesser an seinem rechten Handgelenk. „Wir sind erst auf 1500 Meter, 2500 müssen wir noch.“ Beine unter das Flugzeug, Hohlkreuz, Kopf in den Nacken . . .
Jemand reißt das Rolltor an der rechten Seite des Flugzeugs auf — mein Abgrund. Ein aufdringliches Kribbeln schleicht in meine Fingerspitzen. Alle Kraft weicht aus meinem Körper. Angst lässt mein Herz wie wild pumpen, kriecht die Kehle nach oben und äußert sich in panischen Fragen. „Sind die Haken fest?“ „Ja.“ „Alle?“ „Ja.“
Wie durch Watte dringt Lehmanns Stimme zu mir durch: „Es geht los, halt’ dich an deinen Schultergurten fest.“ Der Tandem-Master robbt über den Boden vorwärts und schiebt meinen Körper vor sich her — unerbittlich dem Abgrund entgegen. Ich bin unfähig zu jeder Bewegung, kann weder helfen, noch mich wehren. Und schon hänge ich aus dem Flugzeug. „Kopf in den Nacken!“ Alles rauscht völlig unkoordiniert an mir vorbei. Keine Orientierung: Salti, Drehungen. Und keine Grenzen. Der Himmel spielt mit uns, schleudert uns wild herum. Wir schaffen es in die richtige Position. Hohlkreuz, Kopf in den Nacken — und mit dem Bauch Richtung Boden.
Voller Wucht drängt Sauerstoff in meine Lungen. „Durch die Nase atmen“, hat der Profi vorher gesagt. Ich konzentriere mich und bringe meinen Körper wieder unter Kontrolle. Es ist anstrengend, aber es funktioniert. Ich atme. „Wahnsinn!“ An mehr kann ich nicht denken. Und atme weiter. Wir fallen in Richtung der vielen kleinen Wiesen, Äcker, Häuser, Gärten und Straßen. Ich breite die Arme aus und fliege. Fanfaren klingen in meinen Ohren. In Gedanken schreite ich über den roten Teppich der Glückseligkeit.
Der Tandem-Master klopft mir auf die rechte Schulter und holt mich zurück in die Realität. Ein Ruck schleudert uns aus der Horizontalen in die Vertikale. Der Schirm bremst den freien Fall. Und plötzlich ist da — nichts. Nur friedliche Stille. Und meine Füße baumeln über dem Niederrhein.
Wir schweben, wirbeln in Kreisen durch die Luft, sausen dem Boden entgegen — viel zu schnell, wie ich finde. Lehmann reißt an den Leinen und bremst uns aus. „Beine hoch“, ruft er. Ich greife mit den Händen in meine Kniekehlen und halte die Füße nach oben. Nicht sanft, aber sicher landen wir im Sitzen auf der Wiese. Mein Urteil steht fest: „Alter, ich brauch’ die Lizenz!“