Obdachlose auf der Kleinbahnstraße: Wenn das Fest schon vorbei ist

Weihnachten ist für die meisten ein Familienfest. Nicht so für die Obdachlosen an der Kleinbahnstraße: keine Familie und keine Geschenke.

Kempen. Weihnachten ist vorbei — schon lange vor den Feiertagen. Ohne große Geschenke, ohne Familie, ohne ein Zuhause. Ein kleiner Weihnachtsbaum, platziert auf einem Tisch mit grüner Wachsdecke erinnert an die kleine Feier, die 15 Tage vor Heiligabend stattgefunden hat.

In der Wärmestube an der Kleinbahnstraße leben Menschen, die nichts mehr haben. Außer sich selbst und ihre Probleme. Martin (Name von der Redaktion geändert) ist so einer. Seit einigen Tagen lebt er in der Unterkunft. Ein gebrochener Mann. Mit gesenktem Kopf sitzt er im schummrigen Gemeinschaftsraum, in dem es nach abgestandenem Zigarrettenrauch riecht, am Tisch. Manchmal blickt er kurz zur Seite hoch, doch sein Kopf bleibt unten. Die Augen sind verquollen, am linken Auge verblasst ein Veilchen. „Rausgeschmissen“ hat ihn seine Frau, sagt der 42-Jährige. „Alles, alles weg“, murmelt er in Richtung Fußboden. Ein Schulterzucken ist alles, was er derzeit über seine Zukunft weiß.

In dem großen Raum steht außer dem Tisch nicht viel: Eine dunkle Anrichte, Kühlschrank, Radio, ein alter Röhrenfernseher. Links geht eine kleine Kochnische ab. „Das ist alles organisiert. Wird bereitgestellt“, sagt Horst Thoenes und deutet auf die Möbel. „Das ist nicht wie zu Hause. Hauptsache, es erfüllt seinen Zweck“, fügt der 67-Jährige hinzu. Der Mitarbeiter der Stadt sorgt dafür, dass es läuft in der Einrichtung.

In den oberen Etagen befinden sich die Schlafräume — sieben Zimmer, 16 Betten. An jede der weiß lackierten Türen ist eine schwarze Zahl gemalt. Martin wohnt in dem Zimmer mit der Nummer drei. Zwei helle Holzbetten, zwei Schränke und zwei Stühle bilden das Mobiliar. Nichts liegt herum, nur über einer Stuhllehne hängen zwei Socken zum Trocknen, die Betten sind gemacht.

„Ordnung, da lege ich Wert drauf“, sagt Thoenes. Er ist Verwaltungsangestellter, eine sozialpädagogische Ausbildung hat er nie gemacht. Lebenserfahrung sei es, die er brauche in diesem Job. Der Umgang mit den Menschen, meist sind es Männer, sei nicht immer leicht. Alkoholmissbrauch oder Jahre im Gefängnis kommen fast in jeder Biographie vor.

Die Hausordnung, die hinter Thoenes’ Schreibtisch im Büro an der Kork-Pinnwand hängt, ist das Grundgerüst des Zusammenlebens im Haus. 16 Paragrafen auf vergilbtem Papier. „Kein Alkohol im Haus“, lautet die wichtigste Regel für die Bewohner. Für den 67-Jährigen im Strickpullover heißt sie jedoch „Menschlichkeit“. „Die darf man hier nicht verlieren.“

Heinz (Name von der Redaktion geändert) hat es manchmal im Leben vielleicht an dieser Menschlichkeit gefehlt. Aus dem Gefängnis ging es vor dreieinhalb Jahren für ihn in die Tages- und Übernachtungsstelle für Nicht-Sesshafte, wie die Wärmestube offiziell heißt. „Als ich raus kam, war die Wohnung aufgelöst.“ Bereits vor zehn Jahren führte das Leben den 61-Jährigen zum ersten Mal in die Einrichtung.

Mit Bedacht klaubt er etwas Tabak aus dem blauen Tütchen vor sich und dreht eine Zigarette. Wer zu schnell ist, hat zu viel Zeit für Langeweile. „Mal in die Stadt gehen und ein paar Bierchen trinken. Was soll man sonst den ganzen Tag machen?“, fragt Heinz. „Wenn man keine Arbeit hat, ist es eben ein bisschen langweilig“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Früher habe er mal als Mechaniker gearbeitet. „Aber das ist ja schon 40 Jahre her.“ Der Mann mit knorriger Stimme und großen fleischigen Händen wohnt am längsten in der Wärmestube.

Die Unterbringung kostet pro Person, Tag und Nacht 47,49 Euro. Vor kurzem waren es noch 40,22 Euro. Die Stadt hat die Gebühren angehoben, weil die Nutzerzahlen sinken. Wer über ein Einkommen verfügt, muss selbst zahlen, ansonsten springt das Jobcenter ein.

„Eine Wohnung wäre schon besser, auf Dauer ist das hier ja nix“, sagt Heinz. Ob das mal möglich wird — so richtig scheint er selbst nicht daran zu glauben. Aber über Sorgen und Wünsche spricht er nicht im Haus an der Kleinbahnstraße. „Mit wem denn? Die haben hier drin doch alle selbst Probleme.“ „Draußen“, sagt er und blickt geradeaus durch das Panoramafenster auf die Straße. Da habe er noch ein paar Kollegen, die ihm zuhören.