Sommer in Bewegung Ein himmlischer Traum geht in Erfüllung

Grefrath · In der Reihe „Sommer in Bewegung“ ging es für WZ- Redakteur Alexander Florié-Albrecht in himmlische Höhen. Er wagte sich an seinen ersten Fallschirm-Tandemsprung. Eindrücke eines außergewöhnliches Abenteuers.

Ein unvergesslicher Moment: Das Hinabschweben am Fallschirm nach 41 Sekunden freiem Fall. 

Foto: Fallschirmsport Grefrath

Es gibt Momente, die im Leben etwas Besonderes sind. Fernab von der Sucht nach Abenteuer, Nervenkitzel und Thrill. Und es gibt die Momente, die voller Adrenalin sind, die man deshalb niemals vergisst. Der Sprung mit dem Fallschirm – das ist so einer.

Lange vorher überlegt, das habe ich nicht, als ich in den Wagen steige, um zum Flugplatz nach Nierswalde zu fahren. Während der Fahrt laufen im Kopf die verschiedensten Gedanken ab: Willst Du so eine Verrücktheit überhaupt wagen? Nur um eine schöne Geschichte über das Fallschirmspringen zu machen? Für das eigene Ego? Nein. Aber was ist es dann? Einmal beruflich dieses spannende Angebot eines Unternehmens in Grefrath mal darzustellen. Und ganz persönlich: Die Grenzen zu überschreiten, die man sich selbst im Kopf setzt.

Das Ziel ist, die eigene
Grenze zu überschreiten

Vor gut 20 Jahren sollte ich als freier Journalist für den NRW-Rundfunk vom Dortmunder Fernsehturm springen. 120 Meter freier Fall nur am Seil. Als ich oben auf dem Sprungbrett stand, schaute ich für einen Moment nach unten – und sah nackten Beton. Zuviel Kopfkino, das da vor sich ging. Ich verzichtete auf das Geld und schritt damals mit hoher Pulsfrequenz bewusst wieder zurück. So ist das, was nun ansteht, im übertragenen Sinn dann schon ein ziemlicher „Sprung“ – von 120 auf gut 4000 Höhenmeter.

Im Radio läuft zufällig „You are not alone“, als ich auf den Parkplatz des Nierswalder Fluggeländes einbiege. Meine Liebste motiviert mich mit einer Whatsapp: „Wenn Didi Hallervorden das kann..“ Der wagte 2017 im Alter von 82 Jahren so einen Satz.

Die Voraussetzungen sind prima: strahlend blauer Himmel – und an den Bänken mit den Sonnenschirmen nehme ich weitere Springer wahr, die auf ihren ganz eigenen Fall in Richtung Erde warten. Der Leonard fliegt mit, sagt eine Mutter. „Ich bin 20, komme aus Mönchengladbach, habe das zum Geburtstag geschenkt bekommen“, sagt der junge Mann. „Also mehr oder minder unfreiwillig, aber ich habe Lust.“ Zwei Versuche sind wegen Corona schon abgesagt worden. Jetzt soll es klappen. Wir werden unsere Premiere später gemeinsam feiern.

Ob er nervös ist? „Ein bisschen Respekt“ empfinde er schon. „Ein bisschen Höhenangst habe ich. Aber die kommen ja alle heil runter, denke ich.“ Denke ich, das ist der wichtige Teil an dem Satz, denke ich mir.

Nervös, das bin ich – noch zu meinem eigenen Erstaunen – da noch nicht. Vielleicht liegt das auch an den Menschen, denen ich auf dem Erdboden begegne. Angelika aus Wegberg zum Beispiel. Sie verfolgt den Sprung ihres 27 Jahre alten Sohnes Krischan. „Er tut ja immer cool. Das machen ja alle Kinder.“ Sie hat ihm den Sprung zum Geburtstag geschenkt, „weil ich das auch mal gemacht habe“, erzählt die 62-Jährige. „Und dann wollte er es auch mal.“ Wie sie es empfunden hat? „Adrenalin pur, es war toll. Das muss man einfach mal gemacht haben. Man ist schwerelos, und man merkt nicht die Geschwindigkeit, wenn man fällt. Und von oben alles zu sehen, ist genial.“

Alles sieht von oben aus wie in Miniatur

Ähnlich sieht es Sonja Heinrichs aus Viersen, die mit hochrotem Kopf gerade frisch von ihrem Jungfernsprung zurückkehrt. „Ich fand es megacool“, erzählt sie frei von der Leber weg. „Am Anfang, wenn man frei fällt, ist es erstmal so: was passiert grad? Ich habe nicht auf die Umgebung geachtet, sondern mehr auf den Wind und danach erst auf das Drumherum.“ Wenn der Schirm sich dann öffne, „sieht man erst: das ist alles wie in Miniatur“. Sogar den Bauernhof ihres Opas will sie ausgemacht haben. Und die Sache mit dem freien Fall? „Wenn man frei fällt, merkt man die Geschwindigkeit – und wenn Luft unter der Brille war, ist Zug. Aber wenn man den Schirm aufhat, merkt man das nicht.“ Den durfte sie sogar selbst mal nach rechts lenken. „Man ist grade in dem Moment und versucht, aufzunehmen, was man kann.“

An dem Schalter begrüßt mich eine freundliche Dame, die mich auf das Bedingungsblatt für das Springen und die Anmeldung einen Schritt weiter rechts via Bildschirm mit Adresse aufmerksam macht. Ich tippe alles ein, unterschreibe den Bogen.

Hoffnung macht mir Mark Polus, der mit seiner gelassenen Art schon für Vertrauen sorgt. Er ist mein Tandemmaster – was soviel wie Sprungpartner heißt. Der 35-Jährige springt seit zwölf Jahren, absolviert 300 bis 400 Sprünge jährlich, wenn Corona nicht dazwischenkommt. „Mein Bruder hat fünf Jahre vor mir angefangen. Dann habe ich nach meinem Abi die Bilder von ihm gesehen und überlegt: mache ich den Motorrad-Führerschein oder eine Fallschirm-Ausbildung. Zum Glück habe ich mich für das Richtige entschieden“, bereitet er den Fallschirm für unseren Flug vor.

„Das ist ein 330 Square Feet-Fallschirm, ein schöner sportlicher Schirm. Im freien Fall werden wir 200 km/h drauf haben“, erläutert er. „Am Fallschirm sinken wir mit 5 bis 7 Meter pro Sekunde, was recht schnell ist, so dass wir den Fallschirm abbremsen müssen, um sanft zu landen. Aber wir landen auf jeden Fall auf dem Hintern. Was Anderes gibt es hier nicht.“

Freier Fall mit Adrenalin
und 200 Kilometer pro Stunde

Adrenalin gehöre auf jeden Fall dazu. „Und beim ersten Sprung ist die Angst dabei. Du siehst im Moment aber noch nicht so aus“, meint er anerkennend.

Zu diesem Zeitpunkt ahne ich nicht, dass es gut eineinhalb Stunden dauern wird, bis wir über das Landegelände gemeinsam zur Maschine laufen, um abzuheben. „Wir haben Probleme beim Betanken der Maschine“, bestätigt Geschäftsführerin Joyce Dierks.

Genug Zeit, um sich in Ruhe das Sprunggeschirr anziehen zu lassen. „Du musst mit den Armen durch die Schlaufen durch“, hilft mir Mark beim Einsteigen in die Ausrüstung. „Du musst eine schöne Haltung einnehmen, aber die kann man nur einnehmen, wenn das nicht zu stramm sitzt“, korrigiert er die Bänder. „Wir werden oben dann mit den beiden Haken verbunden, und dann ist es schön fest.“ Er reicht mit die Mütze und eine Schutzbrille, die es mir ermöglicht, die normale Brille zu tragen. „Am Ende musst Du ja auch was sehen.“

Anschließend erfolgt die Unterweisung in die Sprungtechnik. „Du musst ins Hohlkreuz gehen, dich biegen wie eine Banane“, erklärt er. „Dabei legst Du die Hände an den Gurt. Wenn ich Dich antippe, hälst Du die Hände zur Seite. Wenn ich dich nochmal antippe, ziehst Du wieder die Hände an. Und bei der Landung winkelst du die Beine an und streckst sie so hoch, wie es geht.“ Ich werde mein Bestes versuchen.

Um kurz vor vier Uhr geht es mit der Ausrüstung, Fliegermütze und Sicherheitsbrille in Richtung Maschine. Der Pilot sitzt schon drin, eine weitere Person ist mit im Cockpit – und der junge Mann aus Mönchengladbach mit seinem Tandemmaster. Erst rücken die beiden ins Flugzeug, dann wir. Vorher gibt es noch ein Abschiedsfoto vom Boden. Das winzige Gerät dazu hat Mark am Handgelenk befestigt. 

Der Korpus der Maschine ist schmal, die beiden Tandempaare sitzen auf der Bodenfläche nebeneinander wie in einer Ölsardine. Wegen Corona müssen wir im Flugzeug eine Maske tragen. Mark bittet mich, mich nochmal hochzuwuchten, um richtig in seinen Schoß zu kommen. Wir rollen die Klettverschluss–“Tür“ herunter. Beim Rollen auf die Startposition wird mir erstmals bewusst: Ich springe in ein paar Minuten aus mehreren tausend Metern in die Tiefe.

Die Maschine hebt ab, das Dröhnen der Motoren macht eine Verständigung schwierig. „Geht´s gut?“, höre ich leise hinter mir. Mein Daumen geht hoch. Ich fühle mich gut, aber natürlich steigt innerlich die Aufregung. Man sieht von oben schon Teile der Landschaft. „Da hinten ist Venlo“, meint der Junge an seinem Fenster. Der Höhenmesser an Marks Gerät am Handgelenk steht auf 850 Meter – und er steigt und steigt.

Der Flug dauert eine gute Viertelstunde – geschätzt, weil ich mich immer mehr nur auf mich konzentriere. Mark hakt sich bei mir ein, prüft nochmal die Verbindungen. Dann signalisiert er mir, dass wir gemeinsam die Tür aufrollen können.

Der Moment der Wahrheit, er ist gekommen. „Einfach nur die Beine raushalten – und dann wünsche ich Dir einfach ganz viel Spaß“, kann ich ihn noch so eben hören. Und dann, dann passiert es einfach.

Ein Gefühl, wie gegen eine Windwand zu fallen

Wir fallen nach vorne, ich komme gar nicht zum Schreien, weil mir direkt die Luft wegbleibt. Intuitiv strecke ich schon jetzt die Arme aus. Wir scheinen uns zu drehen. Es ist ein Gefühl, als würde man gegen eine Windwand fallen. Die Luft ist so dünn, dass man nicht weiß, ob man durch die Nase oder den Mund atmen soll. Auf den Fotos sehe ich später, wie sich Wangen und Nasenflügel richtiggehend verformen. Den Kopf nach hinten zu strecken, fällt mir schwer, Mark muss ihn etwas festhalten. Der Wind pfeift durch die Kleidung. Und doch: es ist ein unglaubliches Gefühl, wie man der Erde entgegenschießt.

Genau 41 Sekunden dauert der freie Fall, bis Mark zum zweiten Mal an meine Schulter tippt. Ich lege die Arme an. Der Fallschirm öffnet sich. Ein leichter Zug nach oben wird spürbar, doch das hält nicht lange an.

Jetzt beginnt der Genussteil des Sprungs. Auch wenn die Beine frei baumeln, habe ich das Gefühl, als würde ich gemütlich irgendwo sitzen, wenn auch irgendwo auf mehr als 1000 Meter Höhe. Die Person im Rücken, sie vermittelt Sicherheit. Ich lache und rufe voller Freude in die Kamera: „Super! Fantastisch.“

Es ist ein befreiendes Gefühl. Gigantisch ist er, der Blick über die Landschaft, über die Felder, über die Ortschaften hinweg. Das zieht mich in seinen Bann, lässt mich total entspannen. Eins mit der Atmosphäre zu sein, das ist einfach nur faszinierend.

Ich merke, dass mir die Höhe nichts ausmacht. Es war von Vorteil, mal mit einem Zeppelinballon über Kevelaer gefahren zu sein. Aber es kann auch einfach nur die Euphorie sein, die mich alles andere ausblenden lässt. Mark setzt mit den Lenkseilen zu einer Drehung nach rechts an. Wir liegen quasi schräg in der Luft – ein unfassbar schöner Moment. Das kann gerne länger so gehen, so „berauscht“ und zugleich doch so ausgeglichen bin ich in diesem Augenblick.

Doch was ich so intensiv erlebe, dauert in Wirklichkeit nur ein paar Minuten. Bis mich Mark bittet, sich auf die Landung zu konzentrieren. „Beine anwinkeln und so hoch wie möglich“ - so gut, wie es die unbeweglichen Reporterbeine zulassen, folge ich seinem Rat. Wir rutschen auf dem Hosenboden durch die Gräser, der Fallschirm fällt mit zu Boden. Der hinter mir sitzende Mark fragt mich für die Kamera, wie es mir gefallen hat. Ich habe kein Zeitgefühl mehr und antworte: „Es war eine fantastische Reise, sechs Minuten lang im Himmel zu sein.“