Ruhe, bitte! Vom Ausstieg aus dem Hamsterrad
Tönisberg · Das Ehepaar Keens hat Karriere Karriere sein lassen. Nun gibt es einen Neustart an einem Ruheort in Tönisberg.
12 Uhr mittags. Siebenhäuser in Tönisberg. Wer die Straße nicht kennt, nimmt ihren Namen wörtlich. Ein bisschen Bullerbü-Romantik – auch ohne Schneedecke. Weihnachtshektik lässt man auf dem Weg zum Keens-Hof jedenfalls zurück, als sei man unterwegs in eine andere Zeitrechnung.
Christine Lotz-Keens und Ehemann Johannes empfangen ihren Besuch auf der Veranda des Gartenhauses. Es ist eine Kaffeerunde an einem grauen, mittelkalten Dezembertag im Freien. Mit einem unverbaubaren Blick ins Hülser Bruch. Das ist ein Genussmoment, Stille im Grünen. Nur die vorlauten Spatzen bei den Hühnern der alten Vorwerk-Rasse lassen sich nicht auf eine Schnabel-, Pardon, Atempause ein.
Früher von Termin
zu Termin gehetzt
Wenn man erzählt, Ehepaar Keens – sie 53, er 62 – habe sich zur Ruhe gesetzt, stimmt das nur zur Hälfte. Die ganze Wahrheit ist: Die beiden starten beruflich noch einmal durch. Mit direkter Bodenhaftung zum Ort seiner Familie, seiner Geburt und Jugend. „Ich bin im Dorf geboren“, sagt Johannes Keens. „Zurück auf anders“, könnte ihr neues Kapitel heißen. Die Keens haben ihr Leben wieder in die Hand bekommen.
2015 hätten sie für einen Plausch an einem Werktag keine Zeit gehabt. Sie lebten in Köln. Ihre berufliche Taktung war eine, die an Grenzen führte. Bauingenieurin Christine Lotz-Keens war Beamtin in leitender Funktion. Die Zukunft bestimmte ihre Gegenwart: „Das automatisierte Fahren war mein Forschungsfeld, genauer gesagt die Kommunikation zwischen Fahrzeugen.“ Fragen und Erkenntnisse über die Mensch-Maschine-Interaktion führten sie in ganz Deutschland und Europa herum. „Ich bin von Termin zu Termin gehetzt.“ 200, 300 aufgelaufene E-Mails am Tag waren ein Gradmesser für eine unbarmherzige Beanspruchung, eine ruhelose Lebenszeit trotz des ehrgeizigen Schaffe-schaffe-Pensums.
Ihr Mann, studierter Landwirt mit anschließender IT-Karriere, wurde von seinem Arbeitgeber ausgebremst. Per Mail wurde ihm 2016 mitgeteilt, dass man mit ihm, dem Rechenzentrumsleiter, nicht mehr plane. Das hat geschmerzt. Unternehmerisch, so Keens, sei diese Entscheidung vielleicht nachvollziehbar gewesen. Aber die Art und Weise der Durchführung traf ihn wie ein Schlag. Von wertschätzendem und respektvollem Umgang keine Spur nach 29 Jahren. Aber genau das hat dem Tönisberger schließlich den Ausstieg aus dem Hamsterrad leicht gemacht. „Wir hatten immer schon mal gedacht, auf dem Hof ein Refugium für alte Esel zu schaffen. Wenn wir mal alt sind…“, sagt Johannes Keens. Nun haben er und seine Frau ihre Professionalität im Coaching auf den Hof geholt. Und mit Cooking, die Leidenschaft fürs gemeinsame Kochen, verknüpft.
Dem Doppel-C des neuen Marketings kann man noch den unverwechselbaren Charme eines Ruheortes zufügen, den man nur noch selten im Immobilienprospekt findet. Wohnhaus, Scheune, Kuhstall und Anbauten, dazu 3000 Quadratmeter Fläche mit Obstwiese und Hühnerstall. Der Rest ist verpachtet. Christine Lotz-Keens: „Das ist der Abenteuerspielplatz meines Mannes. Er ist 90 Prozent des Tages draußen.“ Dass beide tagsüber Funkgeräte dabei haben, um sich jederzeit auch auf die Entfernung sprechen zu können, ist kein Witz.
Eine „achtsame Mittagspause“
ist Teil des Programms
Für sie war die Kehrtwende das Abenteuerliche. „Ich habe lange gedanklich auf dem Zehn-Meter-Brett gestanden, ehe ich gesprungen bin“, sagt Christine Lotz-Keens. Arbeitszeitreduzierung, weniger Verantwortung – das Drehen an diesen Stellschrauben reichte nicht aus zum größeren Wohlbefinden. Dann machte sie tatsächlich den Schnitt, verzichtete sogar auf ihren Beamtenstatus. „Freiheit versus Sicherheit.“ Sie ist freiwillig abgesprungen.
Nun sei sie wieder „ganz die Alte“, sagen Menschen, die sie von früher kennen. Bevor Stress und Unruhe Kreativität und Schaffenskraft lähmten. „Manchmal hat sie mir zu viele Ideen“, sagt Ehemann Johannes und lacht. Konzeptionell sind beide sich einig. Sie wollen Menschen von ihrer wiedergefundenen Ruhe an einem ebensolchen Ort teilhaben lassen.
„Die Mitte finden“ – ist ein Schlagwort, das vor Ort auch intuitiv umgesetzt werden kann. Beim Bogenschießen im Garten oder in der Scheune (Johannes Keens hat den Trainerschein) oder bei Workshops, die künftig im renovierten Kuhstall ausgerichtet werden sollen, der zurzeit umgebaut wird. „Hier kommt die Küche hin“, hat Christine Lotz-Keens das neue alte, 80 Quadratmeter große Refugium schon vor Augen. Dann kommen zu den gemeinsamen Essen unterm Nussbaum neue Möglichkeiten des Austauschens und Auftankens der inneren Stärke hinzu.
Die Einladung zur Auszeit im Rahmen eines gemeinsamen Mittagessens, der die neue Grundidee am Keens-Hof bekannter machen soll, wird gut angenommen. „Mindful Lunch“ nennen die Gastgeber die achtsame Mittagspause. Genuss und Reflexion am Tisch. Den eigenen Sinnen Raum geben, auch das ist das Ziel des Ruheorts. Genauer hinsehen, genauer acht geben auf das, was gereicht wird. „Wir sind aber nicht spirituell oder esoterisch“, betont Christine Lotz-Keens.
Lebensbejahend trifft die neue Zeitrechnung des Ehepaars besser. Nach dem Motto: „Man soll einen Baum pflanzen, auch wenn man nicht weiß, ob man noch unter seinem Schatten sitzen wird.“ Neben ihrer Obstwiese haben die Keens Obstbaumsetzlinge gepflanzt. Und der junge Feigenbaum hinter der Scheune, der von der Veranda aus zu sehen ist, wird künftig auch noch eine üppigere Ernte abwerfen. In der Ruhe liegt die Kraft der Geduld. Und Ehepaar Keens hat Zeit.