„Unklarheiten in der Bewertung“ Stadt Viersen stoppt umstrittene Abschiebung – darum geht es

Viersen/Nettetal/Düsseldorf · Ein kurdisches Ehepaar, das von der Ausländerbehörde im evangelischen Gemeindehaus Lobberich verhaftet und in Abschiebehaft genommen wurde, ist am Montag aus der Haft entlassen worden. Sein Anspruch auf Asyl wird nun erneut geprüft. Der Fall hatte bundesweit Aufsehen erregt.

Ein Justizbeamter geht hinter einer vergitterten Tür über den Flur eines Zellentrakts der Abschiebehafteinrichtung in Darmstadt. Dort war das kurdische Ehepaar nach seiner Verhaftung durch die Ausländerbehörde Viersen untergebracht. Es sollte an diesem Dienstag nach Polen gebracht werden.

Foto: dpa/Arne Dedert

. Im Wechselbad der Gefühle: Pro Asyl und weitere Menschenrechtsorganisationen forderten am Montagvormittag die Stadt Viersen auf, das aus Irak geflüchtete Paar nicht, wie geplant am Dienstag, abzuschieben und den Fall erneut zu prüfen. Am Montagnachmittag lehnte dann das Verwaltungsgericht Düsseldorf einen Eilantrag gegen die Rückführung des kurdischen Ehepaares nach Polen ab. Wenige Stunden später die Kehrtwende: Die Eheleute durften die Abschiebehaft in Darmstadt verlassen – und haben die Gewissheit: Ihr Antrag auf Asyl wird in Deutschland geprüft, nicht in Polen, wo sie nach eigener Aussage Gewalt von polnischen Sicherheitskräften erlebt haben und „unmenschlich behandelt“ worden sein sollen. Bürgermeisterin Sabine Anemüller (SPD) hatte die Abschiebung gestoppt.

Der Fall des kurdischen Paares hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt, weil die Stadt Viersen nach Rechtsauffassung der evangelischen Kirche in Deutschland mit der unangekündigten Festnahme im evangelischen Gemeindehaus Lobberich am 1. Juli Kirchenasyl gebrochen haben soll. Es wäre der erste Fall seit neun Jahren. Am Freitag fand eine Mahnwache mit rund 90 Teilnehmern vor der Viersener Ausländerbehörde für das in Darmstadt inhaftierte Ehepaar statt. „Das Paar war in Polen mehrere Monate inhaftiert, wurde dort beschimpft, es durfte nicht telefonieren. Insbesondere die Frau war dadurch extrem traumatisiert“, erklärte Tom Brandt vom Ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW.

Bürgermeisterin Anemüller betonte am Montag: „Die Ausländerbehörde der Stadt Viersen hat den Fall rechtlich einwandfrei und absolut sauber abgearbeitet. Grundlage waren und sind, wie in Asylverfahren vorgegeben, die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Die Gerichte haben auch in diesem Fall das Vorgehen der Ausländerbehörde uneingeschränkt unterstützt.“

Jedoch hätten sich am Wochenende Unklarheiten in der Bewertung einzelner Elemente des Falles insbesondere in der Abstimmung mit dem Land NRW ergeben, erklärte Anemüller. Diese sollten zunächst geklärt werden, um eine einheitliche Einschätzung und Handhabung sowohl in diesem Fall als auch für die Zukunft zu gewährleisten, so die Bürgermeisterin. Anemüller: „Das geht nicht unter dem durch den Abschiebetermin vorgegebenen Zeitdruck.“

Die Abschiebung war für Dienstag, 25. Juli, vorgesehen. Hintergrund: Um Mitternacht läuft die sogenannte Überstellungsfrist ab. Da das Ehepaar aus Belarus über Polen in die EU einreiste, war Polen fürs Asylverfahren zuständig. Hält sich ein Asylsuchender allerdings mehr als ein halbes Jahr in einem anderen Mitgliedsstaat der EU auf, geht das Asylverfahren auf dessen Behörden über. Das bestätigte ein Sprecher der Stadt Viersen. „Aufgrund des nun erfolgenden Fristablaufes geht die Zuständigkeit für das Asylverfahren vom polnischen auf den deutschen Staat über. Zu entscheiden hat nun das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.“ Die Behörde prüft seit Donnerstag den von dem Ehepaar eingereichten Asylfolgeantrag.

Der Flüchtlingsrat NRW bezeichnete die Festnahme in Schutzräumen als „Tabubruch“. Geschäftsführerin Birgit Naujoks hatte an NRW-Flucht- und Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) appelliert, mit verbindlichen Erlassen für Rechtssicherheit zu sorgen. Ein Sprecher des Ministeriums erklärte auf Anfrage, dass das Land NRW die landesbezogenen Abläufe in Fällen des Kirchenasyls zeitnah aktualisieren und dazu den Erlass zum Kirchenasyl erneuern und darin die seit Jahren bekannte und weiterhin vertretene Rechtsauffassung des Landes zu Fällen des Kirchenasyls noch mal aufbereiten werde.

Ein Erlass zum Kirchenasyl der schwarz-gelben Vorgängerregierung war ausgelaufen und nicht erneuert worden.

Pauls Ministerium habe am
11. Juli von dem Fall des kurdischen Ehepaares erfahren, erklärte der Sprecher. „Seither haben wir im Zusammenwirken mit den beteiligten Akteuren den Sachverhalt aufgeklärt.“ Das Land habe sich aktiv eingebracht und stets betont, „dass das Institut des Kirchenasyls einen wichtigen Beitrag leistet, um in schwierigen Einzelfällen Lösungen zu finden, die auf der einen Seite den rechtlichen Rahmen wahren und gleichzeitig besondere Härten verhindern können“, erklärte der Ministeriumssprecher. „Auf dieser Basis konnte für den Einzelfall in der Stadt Viersen eine gute Lösung gefunden werden.“ Daneben sei die Kommunikation der beteiligten Akteure ein Schlüssel, um Situationen wie zuletzt in der der Ausländerbehörde Viersen zu vermeiden.

Der Sprecher kündigte an: „Entsprechend beabsichtigt das Land, zeitnah den in Corona-Zeiten ausgesetzten Dialog mit den Landeskirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Kirchenasyl fortzusetzen.“