Herr Nachtwey, was hat Sie in der Willicher Stadtverwaltung am meisten überrascht?
Interview mit dem Technischen Beigeordneten der Stadt Willich, Gregor Nachtwey „In 20 Jahren wird Mobilität ganz anders aussehen“
Willich. · Interview Der Technische Beigeordnete Gregor Nachtwey über Bürgerbeteiligung, Verkehr, bezahlbaren Wohnraum und Personalmangel.
Seit dem 1. Februar 2019 ist Gregor Nachtwey Technischer Beigeordneter der Stadt Willich und hat damit die Nachfolge von Martina Stall angetreten, die 24 Jahre lang im Amt war. Kontakt zu seiner Vorgängerin habe er nicht, sagt der 44-Jährige. Dennoch habe er sich in Willich inzwischen gut eingelebt und eingearbeitet. Stall ist Architektin, Nachtwey ist Stadtplaner, weswegen sich die Politik von ihm neue Impulse und eine andere Herangehensweise erhofft.
Gregor Nachtwey: Ich bin zunächst einmal unbefangen an die Sache herangegangen und habe mir angeschaut, was ich vorfinde. Ich halte nichts von blindem Aktionismus, daher muss man Ungeduld seitens der Politik, wenn sich nicht sofort etwas verändert, erst einmal aushalten. Zudem kann man gerade im technischen Bereich vieles nicht von heute auf morgen ändern, man muss eher planerisch-analytisch an die Dinge rangehen. Und hier lag für mich die größte Überraschung: Obwohl es in Willich wirklich viele Themen gibt, über die in der Politik engagiert und kompetent diskutiert wird – wie Verkehr, bezahlbaren Wohnungsraum, Gewerbeflächenerschließung und so weiter –, muss einiges noch zu Ende gedacht werden. Es gibt viele wirklich gute Ansätze, aber nicht immer einen kompletten Fahrplan. Aber der ist wichtig, da man die gesamte Stadt denken und das dann auf die Stadtteile runterbrechen muss, ohne sich über Gebühr im Vorfeld in Details zu verlieren.
Die Bürger leben aber in den Stadtteilen. In den vergangenen Jahren haben sich in Willich viele Bürgerinitiativen gegründet. Wie nehmen Sie das wahr?
Nachtwey: Dass sich Bürgerinitiativen gründen, passiert überall. Früher war es so, dass diese sich gründeten, wenn man irgendwo einen Spaten in die Erde gesteckt hat. Heute passiert das schon, wenn über ein Projekt nachgedacht wird. Ich sehe das positiv: Die Leute setzen sich intensiv mit ihrer Umgebung auseinander. Aber da sind wir wieder bei den Fahrplänen und Konzepten: Die brauche ich, um den Bürgern das große Ganze erklären und sie überzeugen zu können. Dann sind die Chancen größer, etwas realisieren zu können. Meine Aufgabe als Stadtplaner ist auch die eines Vermittlers, und dazu muss man kommunizieren und früh mit offenen Karten spielen.
Manches ist schiefgelaufen, als Sie noch nicht Technischer Beigeordneter waren. Wo wollen Sie mit der ausgeprägten Bürgerbeteiligung anfangen?
Nachtwey: Das Mobilitätskonzept für die Gesamtstadt Willich wollen wir in einem großen öffentlichen Prozess erarbeiten und Stadtteilforen anbieten, um die Menschen frühzeitig mitzunehmen. Die Leute haben Ideen, Erfahrungen und vor allem die Kenntnis vor Ort, und die brauchen wir. Schließlich sind es die Bürger selbst, die die Mobilität verursachen. Klar ist aber auch: Wir müssen versuchen, das Mobilitätsverhalten zu ändern. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen schaffen und quantitative und qualitative Alternativen bieten. So wie heute wird die Mobilität in 20 Jahren nicht mehr aussehen.
Was heißt das konkret für Willich?
Nachtwey: Einer der Schlüssel ist die Verlängerung der Regiobahn, um von Neersen und Schiefbahn aus ohne Auto schneller in Viersen und Düsseldorf sein zu können. Der Ausbau des Schienenpersonenverkehrs ist die Hauptantwort. Allerdings muss die regionale Verkehrsvernetzung stärker vom Land in die Hand genommen werden und ist eine politische Aufgabe auf höheren Ebenen. Das heißt aber nicht, dass man in Willich selbst nicht mit gutem Beispiel vorangehen kann. Denn die Mobilität wird künftig vielfältiger und vernetzter sein. Wir müssen dahin kommen, dass man beispielsweise morgens mit dem Auto zum Park-and-Ride-Parkplatz fährt, von dort aus mit der S-Bahn weiter und die letzten Kilometer dann zum Beispiel mit einem E-Bike zurücklegt. Ideal wäre es, wenn eine App einem dann noch sagen könnte, wann man zu Hause los muss, um zu einer bestimmten Uhrzeit am Ziel anzukommen, und wo das nächste Leih-E-Bike oder Carsharing-Auto steht und online „just in time“ gebucht wird. Da müssen wir hinkommen, natürlich auch in Willich. Das Auto wird jedenfalls nicht mehr das Hauptverkehrsmittel sein.
Noch spielt das Auto allerdings eine wichtige Rolle, und in allen vier Stadtteilen heißt es, es herrsche Verkehrschaos.
Nachtwey: Chaos ist subjektiv. Ist es wirklich schon ein Chaos, wenn ich drei Rotphasen warten muss, um über eine Ampel zu kommen? Natürlich müssen neuralgische Punkte wie Münchheide entzerrt werden, aber andernorts ist es schwierig. Denn die Stadtteile sind gewachsene Strukturen, wo der nötige Verkehrsraum nicht ausreichend vorhanden ist. Daher müssen wir schauen, wie wir den Verkehr durch intelligente Systeme und andere Führung entzerren. Ich erhoffe mir viel von der 5-G-Technologie, durch die Ampelschaltungen besser und situationsgerechter aufeinander abgestimmt werden können.
Nehmen wir Schiefbahn: Dort heißt es, die Hochstraße sei überlastet. Zudem nehmen Autofahrer die Abkürzung über die Wirtschaftswege rund um Klein Kempen. Sollte man die Nordumgehung vom Schiefbahner Dreieck bis Niederheide, die politisch schon tot ist, noch mal hervorholen?
Nachtwey: Die Zeit der großen Ortsumgehungsstraßen ist eigentlich vorbei, das hat man in den 70ern und 80ern gemacht. Allerdings bietet der geplante Kreisverkehr an der Ecke Korschenbroicher/Willicher Straße interessante Möglichkeiten. Darüber soll das neue Baugebiet Fontanestraße – was leider ins Stocken geraten ist – erschlossen werden. Aber dieser vom Kreisverkehr ausgehende Arm könnte der erste Schritt in Richtung Nordumgehung sein. Allerdings würde diese Umgehung als Landesstraße mehr Sinn ergeben. Man müsste über einen Tausch nachdenken und dafür im Gegenzug die Hochstraße zur kommunalen Straße machen und dort neue Mobilitätsformen realisieren. Denn wenn man weg vom Auto will, muss man mehr Platz für andere Verkehrsmittel, Fahrräder beispielsweise, schaffen.
Der von der Verwaltung vorgeschlagene Ausbau der Willicher Straße zwischen Korschenbroicher Straße und Rubensweg mit einer Straßenbreite von 18 Metern mit zwei Fuß- und zwei Radwegen plus Straßengrün sieht das ja vor. Aber dort laufen die Anwohner Sturm.
Nachtwey: Über die „breite“ Straße hat sich im Bebauungsplanverfahren niemand aufgeregt, anscheinend auch gar nicht so richtig Notiz davon genommen. Dies kam erst so richtig zum Ausdruck, als die höheren Kosten durch Anliegerbeiträge im Raum standen. Es war nicht sonderlich klug, dass man vor Jahren die Zahl von sechs Euro Anliegerkosten pro Quadratmeter Grundstücksfläche in den Raum gestellt hat, ohne dass es überhaupt eine in wesentlichen Teilen ausgereifte Planung des endgültigen Straßenausbaus gegeben hätte. Zwischenzeitlich liegen bei Berücksichtigung aller Planungsparameter leider die Kosten um ein Vielfaches höher als seinerzeit verkündet. Dass sich darüber die Anlieger ärgern, kann ich nachvollziehen. Aber ich finde auch, wenn man wie dort genügend Platz hat, etwas zu verändern, sollte man es auch tun. Sonst kommen wir nie weiter, und gesamtgesellschaftlich wäre es ein Mehrwert. Man muss abwägen zwischen Einzelinteressen und Allgemeinwohl. Aber das Ganze zeigt wieder: Planung braucht Zeit und muss gut überlegt sein. Eine einmal angelegte Straße kann man nicht mal eben revidieren.
Die Verkehrssituation ist das eine große Thema in Willich, das andere ist der bezahlbare Wohnraum.
Nachtwey: Dafür habe ich mich schon während meiner Zeit als Politiker im Rhein-Erft-Kreis eingesetzt und sehe auch für Willich dringenden Handlungsbedarf. Wir bedienen zu stark die Klientel, die sich ein Einfamilienhaus leisten kann. Dabei ist es gesetzlicher Auftrag einer Kommune, Wohnraum für alle Bevölkerungsschichten bereitzustellen. Ich spreche ja nicht von Hochhaussiedlungen, sondern von zwei bis drei Stockwerken plus Dach. Das unterscheidet sich optisch kaum von heutigen Reihenhäusern. Die Mehrfamilienhäuser sind dann halt nur etwas breiter und tiefer. Neben mietpreisgebundenen Wohnungen für etwa acht Euro pro Quadratmeter brauchen wir aber auch verstärkt hochwertigen Geschosswohnungsbau für die ältere Generation, die ihr Einfamilienhaus aufgibt. Jedenfalls müssen wir stärker abkehren vom freistehenden Einfamilienhaus, denn das ist der größte Flächenverbraucher. Daher ist es für mich auch eine vertane Chance, dass man am Schiefbahner Dreieck so großzügige Grundstücke geplant hat. Dass dort die Preise entsprechend hoch sind, darf einen nicht wundern.
Positives Beispiel dürften dann doch die Katharinen-Höfe auf dem Gelände des ehemaligen Krankenhauses sein. Wie läuft es mit der Vermarktung?
Nachtwey: Das Grundstück ist noch bis zum 28. Februar ausgeschrieben, wir haben aber schon viele gute Gespräche mit Investoren geführt. Das Projekt hat besondere Herausforderungen: Zum einen ist der Kaufpreis mit mindestens 7,2 Millionen Euro nicht gerade niedrig, zum anderen ist dort ein Mix aus bezahlbarem und frei finanziertem Wohnraum, Miet- und Eigentumswohnungen sowie Dienstleistung und Einzelhandel vorgesehen. Das macht es für manche Investoren schwierig, aber ich bin davon überzeugt, dass das für die Willicher Innenstadt ein absolutes Sahnestück wird. Denn wir haben einen sehr hohen städtebaulichen und architektonischen Anspruch.
In Alt-Willich tut sich also etwas. Nachdem schon Kaiserplatz und Markt umgestaltet sind, soll auch das Brauerei-Gelände neu gestaltet werden. In letzter Zeit ist es allerdings still um dieses Projekt geworden. Wie sieht es aus?
Nachtwey: Auch wenn man in der Öffentlichkeit nicht viel hört, laufen im Hintergrund Gespräche mit allen Eigentümern der drei Areale Rewe, Stadtwerke-Gebäude und Brauerei-Passage. Letzterer hat ja kürzlich gewechselt, und der neue Eigentümer ist unseren Ideen gegenüber aufgeschlossen und bereit, etwas zu verändern. Im kommenden Jahr wollen wir das Projekt angehen. Und wenn wir auch noch die innerstädtische Brache zwischen Graben-, Brauerei- und Kreuzstraße neu gestalten (auch hier laufen Gespräche), wird sich das Gesicht der Willicher Innenstadt innerhalb von zehn Jahren hochwertig verändert haben. Davon träumt ein Stadtplaner natürlich. Und: Auch das Beleuchtungskonzept für Alt-Willich wollen wir im nächsten Jahr anpacken.
Mit der Innenstadtsanierung hat sich auch in Anrath viel getan. Nun steht die Ansiedlung eines Vollsortimenters an. Was gilt es dabei zu beachten?
Nachtwey: Auch hier führen wir Gespräche mit einer Projektentwicklungsgesellschaft, haben schon Grundstücke gekauft, auf denen Parkplätze angelegt werden können. Wichtig ist, dass das Lebensmittelgeschäft, das Anrath dringend braucht, nicht für sich steht und sich zur Innenstadt hin abschottet. Der Vollsortimenter wird Teil eines Viertels mitten in Anrath zwischen Drogeriemarkt, Discounter und Fußgängerzone sein. Das muss man intelligent miteinander verknüpfen und natürlich auch die bestehenden Einzelhändler mitnehmen. Auch hier muss man gründlich planen, wenn wir uns hinterher nicht 30 Jahre lang darüber ärgern wollen, etwas falsch gemacht zu haben.
Jetzt haben wir viel über laufende und anstehende Projekte gesprochen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Im Technischen Rathaus sind viele Stellen unbesetzt. Wie wirkt sich das aus?
Nachtwey: Ja, wir sind personell nicht so aufgestellt, dass wir alles bedienen und leisten können. Es hakt zum Beispiel bei den Baugenehmigungen, weil in der Bauaufsicht zwei Stellen nicht besetzt sind. Wir haben einen großen Mangel in den technischen Berufen. Daher müssen wir jonglieren, sind oft eher Feuerlöscher. Im Moment behelfen wir uns noch mit Personal, das eigentlich schon im Ruhestand ist. So kann das nicht weitergehen, denn die Aufgaben werden nicht weniger.
Und was wollen Sie konkret unternehmen?
Nachtwey: Wir werden die Personalgewinnung deutlich ausbauen. Daher haben wir aktuell mit der Akquise für sieben Ingenieursstellen einen Personaldienstleister beauftragt. Das kostet zwar Geld, aber jede unbesetzte Stelle kostet mehr. Wichtig ist es auch, im Kreis Viersen enger zusammenzuarbeiten und zu schauen, wo Kommunen Leistungen für andere übernehmen können.
Willich ist aber nicht die einzige Kommune, die händeringend Personal sucht ...
Nachtwey: Genau, deswegen müssen wir auch an unserer Attraktivität als Arbeitgeber konstant arbeiten. Das fängt beim betrieblichen Gesundheitsmanagement an, geht über mehr Heimarbeit und bessere Bezahlung bis zur Tatsache, dass wir unseren Beschäftigten in Willich attraktiven Wohnraum bieten müssen. Hier schließt sich der Kreis. msc