Ausnahmezustand Harte Landung nach dem Klappertüüt
Tönisvorst · Ein Gespräch mit Erika Fechler über zwei Lebensphasen im Ausnahmezustand: Der Gaudi in der Session folgt nun verordnete Stille.
Das Jahr 2020 ist noch jung. Trotzdem hatte es für Erika Fechler bereits zwei intensive Lebensphasen in petto, die sich unterschiedlicher nicht anfühlen könnten. Und die sich so nicht wiederholen werden – unvorstellbar schön und unvorstellbar fordernd, zwei Mal Ausnahmezustand ohne Alltagsroutine.
Fechler erlebte Gaudi pur und am laufenden Band als Bauer Erika im ersten Tönisvorster Damen-Dreigestirn. Auf der Gefühlsachterbahn war das ein himmelhoch jauchzendes „Klappertüt“. Dann folgte die harte Ladung in der Corona-Krise – „eine Landung wie auf einem Betonboden“.
„Als Bauer Erika habe ich meinen Lebenswunschtraum gelebt“, erzählt Erika Fechler. Je nachdem welches Bild sie sich aus der Session vors geistige Auge holt, übermannt sie Freude, Rührung oder Gänsehaut. Oder alles zusammen.
„So etwas kann man sich vorher nicht ausmalen. Es wurde noch viel schöner als gedacht.“ Fechler erzählt von der puren Freude, die sie als Frontfrau auf der Bühne erlebt hat. Von den Freundinnen im Dreigestirn, die sie durch diese Trio-Nähe noch besser kennengelernt hat. Von dem Zuspruch, den erfahrene Karnevalisten und das Publikum auf vielfältigste Weise ausgedrückt haben.
Gelernt habe sie sehr viel, sagt Erika Fechler. Über den organisierten und spotanen Karneval und über treue Menschen in den Begleitgarden. „Es gab so viele Gänsehaut-Momente – die Proklamation, die Galasitzung, der Auftritt mit Marita Köllner in Köln und natürlich der Zug an Tulpensonntag durch St. Tönis.“
Sie sei im Nachhinein dem Tönisvorster Karnevalskomitee noch dankbarer dafür, dass es „den Zug hat ziehen lassen. Das war für uns ein Riesengeschenk. Ich war zwar am Ende durchnässt wie nie zuvor, aber das hätte man nicht nachholen können. Ein perfekter Abschluss!“
Das Fischessen und die gegenseitige Wertschätzung der Akteure in der zu Ende gehenden Session hat Erika Fechler als einen besonders innigen Moment erlebt.
Die Zeit im Dreigstirn, das Leben im Ornat und die Fülle an Auftritten hat sie der Stadt und ihren Bürgern gefühlsmäßig noch näher gebracht. „Ich wurde sogar in Zivil beim Einkaufen erkannt. Und auch nach Karneval höre ich noch den Satz: „Also ich muss Ihnen mal sagen: Das war toll!“
Nach Sessionsende kehrte Ruhe ein. „Ich hatte noch Urlaub und habe mich erst einmal ein wenig heruntergefahren. Das hatte auch etwas Schönes, einmal lang ausschlafen zu können und einmal nichts zu tun.“ Aber schon der Samstag ohne Termin und Auftritt habe sich eigenartig angefühlt.
„Ich hatte die Rolle, die ich spielte, sobald ich das Ornat trug, verinnerlicht. Als wir drei gemeinsam unsere geliehenen Kostüme bei Hintzen wieder abgaben und unser Wappen abgetrennt wurde, stockte mir der Atem.“ So weh tat der Moment.
Wer hätte gedacht, dass Aschermittwoch im Rückblick eine noch viel tiefgreifendere Zäsur im Leben bedeutete. Corona kippte alles.
„Über dieses Osterwochenende wären wir Dreigestirn-Damen mit der Familie als Camper in den Niederlanden gewesen, so wie wir es seit langem gemeinsam tun. Es wäre unser Saison-Auftakt gewesen.“ Das verordnete „Stay at home“ vertagt den Camping-Start. Fechler: „Das tut schon weh.“
Ihr hilft in dieser weiteren, ganz anderen Ausnahmesituation Aktionismus: „Ich gehe hinaus an die frische Luft, so oft es geht, habe das Wohnzimmer renoviert und mache mich jetzt gemeinsam mit meinem Mann ans Dachgeschoss.“
Erika Fechler vermisst Freiheiten – das Ausgehen, Besuche von Freunden. „Jetzt muss jeder Einkauf geplant werden.“ Auf einmal vermisse man Dinge, die man vorher womöglich gar nicht gemacht hat, „nur, weil man sie nicht mehr darf“.
Sie beobachtet bei ihrer Tochter, dass sich auch die Jugend bewusst wird, wie wertvoll persönliche Treffen sind, über soziale Medien hinaus. „Auch mir fehlt im Whatsapp-Chat der Gesichtsausdruck meines Gegenübers, ein spontanes Lächeln, die Betonung der Stimme.“
Die augenblickliche Situation sei „unfassbar. Man sammelt neue Lebenserfahrung, auch, dass nicht alles immer planbar ist“. Ihrer Tochter, die studiere, habe sie geraten, Prüfungen möglichst zu machen und nicht aufzuschieben, damit sich dahinter nichts auftürmt. Nun habe sie nicht zu Prüfungen antreten können. „Damit muss man jetzt erst einmal klarkommen.“
Erika Fechler ist sich sicher, dss „nichts mehr so sein wird, wie es war“, wenn die Corona-Zeit des Verzichts vorbei ist. „Viele Unternehmen werden es nicht überleben. Kurzarbeit, dadurch weniger Geld – auch das macht etwas mit den Menschen.“ Jetzt erlebe man, wie wichtig der Nachbar ist.
Sie sei froh, sagt Erika Fechler, dass ihre Mutter Corona nicht mehr habe miterleben müssen. Sie starb vor einem Jahr. „Ich hätte mich sehr gefreut, wenn sie unsere Session als Tönisvorster Dreigestirn hätte begleiten können. Es war traurig, dass sie das nicht mehr konnte. Aber die Zeit jetzt ist ihr erspart geblieben. Die Einsamkeit durch Besuchsverbot im Seniorenheim hätte ihr ganz sicher zu schaffen gemacht.“
An düsteren Tagen kramt Erika Fechler nicht nur in Gedanken ihr Schatzkästchen hervor. Das war und bleibt die Session für ihr Leben. „Davon zehre ich sehr. Corona macht diese Zeit noch unwirklicher als sie sich ohnehin anfühlt.“