Neersen: Ein kleiner Lord öffnet Herzen
In Neersen feiert das Kinderstück eine umjubelte Premiere. Die Aufführung ist aber auch für Erwachsene äußerst sehenswert.
Neersen. Der Ortswechsel dauert nur Sekunden: Eben noch hörten wir die Vögel im Schlosspark singen und die Menschen auf der voll besetzten Tribüne plaudern. Doch dann rauscht plötzlich der Verkehr einer Großstadt an unser Ohr, dröhnt das Gehupe und Stimmengewirr aus den Häuserschluchten von New York, sehen wir dort Schuhputzer, Händler und gruselige Ganoven.
Da stürmt auch schon der kleine Cedric mit seinem alten Lederfußball heran, ein richtiger Junge mit blutigem Knie und flotter Mütze auf dem Kopf - und in Nullkommanichts hat er unsere Herzen erobert. So schnell geht das in der Inszenierung des Stücks "Der kleine Lord", das am Sonntag bei den Festspielen Schloss Neersen eine umjubelte Premiere feierte.
Intendantin Astrid Jacob selbst hat den Kinderbuch-Klassiker, dessen TV-Version mit Alec Guinness fast jeder kennt, in einer Bearbeitung von Ulrike Schanko auf die Bühne gebracht. Ihr gelingt es dabei, den Weihnachtsfilm-Klassiker völlig vergessen zu machen.
Als Glücksgriff erweist sich Susanne Mucha in der Rolle des kleinen Cedric: Die Schauspielerin ist von der ersten Minute an dieser tolle kleine Bursche aus Amerika, dessen großes Herz ganz fest für seine Mutter Mrs.Errol und seine Freunde Dick (Holger Stolz) und Mr.Hobbs (Wolf-Guido Grasenick) schlägt. Bald hat man als Zuschauer glatt vergessen, dass unter der Mütze des Jungen eine erwachsene Frau steckt, so vollkommen geht Susanne Mucha in der Rolle auf.
Niemand, der ihren Cedric anfangs sieht, käme auf die Idee, einen leibhaftigen Lord Fauntleroy vor sich zu haben. Doch Genau diese Botschaft hat der vornehme "Melonenkopp" Mr.Havisham (Jürgen Hoppe) mit nach Amerika gebracht. Und schon ist Schluss mit lustig: Der Junge muss sich von den Freunden verabschieden, denn plötzlich ist er als Erbe des alten Grafen Dorincourt im fernen England selbst einer der verhassten "Ristokraten".
Wie das harte Herz des alten Mannes allmählich erweicht wird, bringt Josef Tratnik glänzend rüber. Anfang noch wehrt er die liebevollen Umarmungen des Kindes brüsk ab - doch am Ende gesteht der alte Grantler selbst, den Burschen lieb gewonnen zu haben. Und so wie er sein Herz dem Kind geöffnet hat, so ist es nun auch offen für die Nöte seines armen Pächters (Heinz-Hermann Hoff) - oder für die Mutter seines Enkels, die von Lena Sabine-Berg als zupackende, couragierte Frau gespielt wird.
Astrid Jacob zieht alle Register, um das Publikum zu fesseln. Da werden die kleinen Zuschauer ins Stück direkt eingebunden, wenn Mr.Hobbs beim Packen eines Picknick-Korbs ihre Hilfe braucht. Walter Kiesbauer hat wundervolle Musik komponiert, die mal zu Tränen rührt beim "Liebeslied" zwischen Mutter und Sohn, dann wieder freudig mitreißt beim Geburtstagsständchen für den kleinen Lord. Die Ausstattung (Silke von Patay) ist sparsam, aber effektiv: Da reichen zwei Kerzenleuchter als Symbol für die tiefe Verbundenheit von Mrs. Errol und ihrem Cedi.
Mal geht’s sportlich auf der Bühne zu mit Fußball und Karate, dann wunderbar vulgär: Verena Held als flotte Minna, die sich im eng sitzenden Kleidchen an den Grafen und dessen Geld heranzuschmeißen versucht, setzt ein weiteres Glanzlicht in dieser stimmigen Inszenierung. Die sei an dieser Stelle ausdrücklich auch für Erwachsene empfohlen.