Willich Schicksal der Vertriebenen: „Wir waren nicht gerne gesehen“
Die Ausstellung „Reise ins Ungewisse“ im Heimatmuseum Kamps Pitter beeindruckt. Viele Ehrenamtler haben sich dafür engagiert.
Schiefbahn. Im Heimatmuseum Kamps Pitter ist eine ungewöhnliche Ausstellung eröffnet worden. Sie hat den Charakter einer Dokumentation, Ehrenamtler haben rund 1000 Stunden ihrer Freizeit in die Vorbereitungen gesteckt. Es geht um das Schicksal der Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Neubürger von Willich, Schiefbahn, Neersen und Anrath geworden sind.
Unter anderem sind neun Flüchtlinge beziehungsweise Vertriebene interviewt und gefilmt worden. Ihre Beiträge wurden bei der Eröffnung in einer Kurzfassung gezeigt. Sie sind äußerst berührend.
Rudi Jürgen aus Schiefbahn wird sie nie vergessen, die Nacht, als der Bürgermeister in seiner ostpreußischen Heimat an sein Fenster klopfte: „Rudolf, spann’ die Pferde an, der Russe kommt.“ Das gewohnte Leben war mit einem Schlag vorbei. Draußen warteten der Feind und eisige Kälte — kein Wunder, dass Rudi Jürgen die Anspannung noch mehr als 70 Jahre später deutlich anzumerken war.
Christel Kothen ahnte noch nichts davon, dass sie einmal an der früheren Bahn- und heutigen Linsellesstraße wohnen würde, als sie 1945 nach einer „Reise ins Ungewisse“ mit anderen Ostflüchtlingen am Schiefbahner Bahnhof aus dem Zug stieg. Sie wurde in das Gesellschaftshaus einquartiert und erinnert sich: „Wir waren nicht gerne gesehen.“
Bernd-Dieter Röhrscheid, der in die Ausstellung einführte, zeichnete ein Bild der Not in den vier Altgemeinden nach dem Zweiten Weltkrieg: „Es mangelte vor allem an Lebensmitteln, Heizmaterial und Medikamenten.“ Alleine im Jahre 1946 kamen 1069 Menschen aus Schlesien nach Willich, Anrath, Neersen und Schiefbahn. Diese Detailkenntnisse hatte man nach Auswertung von 165 bislang nicht beachteten Aktenordnern gewonnen, die Stadtarchivar Udo Holzenthal den Heimat- und Geschichtsfreunden zur Verfügung gestellt hatte. Gemeinsam mit der Unterstützung von Werner Genings und Franz-Josef Jansen vom Bürgerverein Anrath waren die Dokumente digitalisiert worden.
Der Anrather Harald Brülls hatte den Film „Reise ins Ungewisse“ gedreht, Dirk Görres erklärte jetzt, wie Nutzer sich künftig die gewünschten Daten auf einem der beiden Touchscreens anzeigen lassen können. Die vielen detaillierten Informationen räumen mit dem Vorurteil auf, dass die Vertriebenen und Flüchtlinge fast ausschließlich evangelische Christen waren: „Ihr Anteil lag nur bei knapp über 50 Prozent und damit deutlich niedriger als in vielen anderen Städten und Regionen“, erklärte Röhrscheid.
Es gibt auch etliche herkömmliche Exponate. Besonders beeindruckend ist ein Koffer eines namentlich nicht bekannten Flüchtlings mit einer Trinkflasche, einem Rucksack und einer langen Unterhose drin. Die Schuhe sind verschlissen und zeugen von langen und anstrengenden Märschen auf dem Weg von der alten hin zur neuen Heimat. Und dass die Menschen hier eine neue Heimat finden konnten, das erklärte Jürgen Stuppan, der sich dank Schützen- und Gesangsvereins-Mitgliedschaft sehr schnell sehr gut integriert fühlte. Trotzdem: Die Schreie der Kinder, die Bomber, die aus geringer Höhe auf die Flüchtenden schossen und unvorstellbare Entbehrungen und Belastungen wird keiner der Flüchtlinge jemals vergessen können.