Serie: Stadtgeschichte Tönisvorst Erster Weltkrieg — Erst Kriegsjubel, dann Kohldampf

Tönisvorst · Vor 109 Jahren taumelte Europa in den Ersten Weltkrieg. Auch zahlreiche Soldaten aus St. Tönis und Vorst kamen bei den Kämpfen ums Leben. Die Menschen an der „Heimatfront“ litten unter großen Entbehrungen.

 Aus dem Album des St. Tönisers Peter Tophoven: Weihnachten im Feldlazarett in Frankreich.

Aus dem Album des St. Tönisers Peter Tophoven: Weihnachten im Feldlazarett in Frankreich.

Foto: Kreisarchiv Viersen

Sommer 1914: Das Pulverfass Balkan explodiert. 1908 ist Bosnien, davor türkische Provinz, vom Kaiserreich Österreich-Ungarn annektiert worden. Am 28. Juni 1914 hat ein serbischer Attentäter in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo mithilfe des serbischen Geheimdienstes den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin ermordet.

Nun brechen in Europa die politischen Gegensätze auf. Die Großmächte taumeln in einen Krieg, in dem sie kontroverse Machtgelüste verfolgen. Die „Mittelmächte“, die beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn, stehen gegen die Staaten der „Entente“, Russland als Schutzmacht Serbiens, den „Erbfeind“ Frankreich und das die Meere beherrschende England. Am 3. August marschieren die Deutschen, um Frankreich in die Zange zu nehmen, in das neutrale Belgien ein. Als dann die Kämpfe um die deutschen Kolonien in Afrika einsetzen und die USA in den Kampf eintreten, wird der europäische zu einem Weltkrieg.

Und die deutsche Bevölkerung? Am Anfang steht Begeisterung. Nur eine Minderheit empfindet Zweifel, ja Angst. Das Eingesperrtsein in Spießbürgertum und starre gesellschaftliche Rangordnungen scheint durch den allgemeinen Jubel bei Kriegsausbruch wie weggefegt. Endlich darf man seine Aggressionen ausleben – gegen den bösen Feind: „Jeder Schuss ein Russ’! – Jeder Stoß ein Franzos’!“ lauten die Slogans der anfänglichen Euphorie.

Als dann Mitte August 1914 die ersten Meldungen von Tod und Verwundung mehrer Mitbürger in St. Tönis und Vorst eintreffen, hört der Jubel auf. In St. Tönis machen sich Bürgermeister Gustav Müller und Pfarrer Johannes Lepers daran, die Angehörigen der gefallenen Heldensöhne zu trösten, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. 258 junge Männer aus St. Tönis werden nicht zurückkommen. Noch wird die Trauer von Siegesmeldungen überdeckt. Mit lauter Stimme ruft der Gemeindebote Jakob Kiwitz die Stationen des deutschen Vormarsches aus: „Viktoria! Deutschland siegt an allen Fronten!“ Derweil marschiert ein hastig aufgestelltes Schüler-Trommlerkorps unter Lehrer Albert Merkelbach durch die Straßen, feiert mit klingendem Spiel der Soldaten Heldenruhm: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein!“

Im Oktober 1914 mündet an der Westfront der Bewegungs- in einen Stellungskrieg. Materialschlachten setzen ein und fordern ungeheure Verluste. Die Stimmung kippt. Nun gilt es, durchzuhalten bis zum endgültigen Sieg. In Vorst findet am 12. Oktober 1914 im Hotel Schraven (später Hotel zur Post) eine Versammlung kriegsbegeisterter Jugendlicher statt.

92 Heranwachsende ab 16 Jahre tun sich zu einer „Jugendkompanie“ zusammen.

Zehn Erwachsene, meist gediente Soldaten, stellen sich zur körperlichen Ertüchtigung auf dem Sportplatz zur Verfügung – bei schlechtem Wetter im Saal der Witwe Küppers. Aber als im Juni 1915 der Kompanieführer Fabricius eingezogen wird, löst die Einheit sich auf. – Indes: Als Vorbereitung auf das Grauen an der Front hätte dieser vaterländische Turnunterricht kaum getaugt. Tagelang liegen dort Soldaten in ihren fünf Meter tiefen Unterständen unter dem Trommelfeuer der Granaten, die oft auch Giftgas enthaltn. Viele werden verschüttet, ersticken qualvoll. Andere werden wahnsinnig unter der nervlichen Belastung. Stacheldraht, Minen und Maschinengewehre zerfetzen beim Sturmangriff die Körper.

Die englische Flotte blockiert Häfen, die Nahrung wird knapp. Getreide wird durch Steckrüben ersetzt. Im Februar 1915 werden die ersten Zuteilungsscheine für Lebensmittel ausgegeben. Schon um fünf Uhr morgens stehen die Menschen vor den Geschäften an. Oft genug werden sie nach stundenlangem Warten weggeschickt: „Nichts mehr da!“

Die Materialschlachten verpulvern Billionen. In Erwartung eines Sieges geben viele Familien ihre Ersparnisse für Kriegsanleihen an den Staat aus. Aber dann ist der Krieg verloren, und das Geld auch. Seit Juli 1917 sind die Pfarrkirchen in St. Tönis und Vorst verstummt: Ihre Glocken sind zur Herstellung von Granaten in die Schmelze gewandert. Was mit Jubel begann, endet in lähmendem Schweigen.