St. Tönis: „Morgens aufzustehen ist eine Qual“
Unruhe, Zittern, Herzrasen, kaum Appetit, kein Schlaf: Wiltrud (45) aus Tönisvorst leidet unter Depressionen.
St. Tönis. Seit Oktober ist Wiltrud sich selbst fremd. "Ich bin eigentlich ein Powermensch, ein sehr lebenslustiger Typ", sagt die 45-Jährige aus Tönisvorst. Zurzeit ist sie allerdings viel zu Hause, möchte lieber allein sein. "Es gibt Tage, da igele ich mich ein", sagt Wiltrud. Oft fällt es ihr morgens schwer, das Bett zu verlassen, sich anzuziehen, in den Tag zu starten. Ihr fehlt der Antrieb. "Mein Motor springt nicht mehr an."
"Gib nicht auf!" und "Willi, lächeln!" steht auf gelben Zetteln, die sie überall in der Wohnung angeklebt hat. Es sind Mut-Zettel. Wiltrud stemmt sich gegen die Depressionen, die Krankheit, die ihren Körper und ihre Seele wie ein zu eng geschnürtes Korsett belastet. Der Hausarzt hat sie an einen Psychiater überwiesen. Regelmäßig ist sie bei einer Psychotherapeutin. "Sie hat mir gesagt: "Halten Sie sich vor Augen, dass sie schwer krank sind.""
"Angefangen hat es Anfang Oktober. Ich konnte mich auf der Arbeit nicht mehr konzentrieren," sagt Wiltrud, die bei Gericht arbeitet. Sie schob ihre schlechte Verfassung zunächst auf die frische Trennung von ihrem Freund. "Ich konnte nicht mehr schlafen, fand keine Ruhe, fünf Tage lang nicht. Das zehrte unglaublich." Die Trennung war aber nicht Ursache, nur Auslöser ihrer schlechten Verfassung. Wiltrud wurde krankgeschrieben. Diagnose: Depressionen. Ruhe verschaffen ihr nur die verschriebenen Tabletten.
Anfangs hatte sie keinen Appetit auf nichts - sechs Kilo nahm sie in zwei Wochen ab. "Ich sagte mir immer: Da kommst du wieder raus." Kam sie aber nicht. "Ich bin richtig zusammengeklappt." Immer wieder passiert es ihr, dass sie am ganzen Körper zittert und dieses Zittern nicht abstellen kann. Das Glas Apfelsaft, das vor ihr steht, bleibt auch beim Gespräch zunächst unberührt. "Ich würde jetzt zu viel verschütten." Später bestellt sie sich einen Strohhalm.
"Mal ist mein Kopf ganz leer, dann schwirren wieder tausend Gedanken herum", erzählt sie. Mittlerweile geht sie offen mit ihrer Krankheit um. "Manchmal denkt man, man wird verrückt." Familienangehörige, Freunde und Arbeitskollegen wissen über ihre Krankheit Bescheid. "Ich habe von ihnen sehr viel Verständnis erlebt", sagt sie.
Als der Selbstmord von Torwart Robert Enke bekannt wurde, hatte Wiltrud in ein Internet-Forum geschrieben "irgendwie kann ich ihn verstehen" und über ihre eigene Depression berichtet. "Wer es nicht selber erlebt hat, kann sich kein Bild von der körperlichen und seelischen Verfassung machen. Man steckt in einem Körper, der eigentlich nicht mehr deiner ist. Das ist ein Scheißgefühl."
Wiltrud möchte, dass die Leute verstehen, was Depression bedeutet, die Krankheit, die man nicht sieht. "Das hat nichts mit hängen lassen zu tun", sagt sie. "Depressionen hat man über Jahre. Ich muss sie aushalten, kann die Krankheit ja nicht abschalten." Die Therapiesitzungen seien anstrengend. Sie will aber dranbleiben. Obwohl jede Anstrengung ein Sieg über sich selbst ist.