Stadtgeschichte Tönisvorst Schusswechsel mit Separatisten in St. Tönis
Serie | Tönisvorst · Vor 100 Jahren versuchten Extremisten, die Gemeinde St. Tönis in eine „Rheinische Republik“ zu zwingen. Was damals geschah.
November 1918: Deutschland hat den Ersten Weltkrieg verloren. Kaiser Wilhelm II. dankt ab, bezieht als Privatmann einen Wohnsitz in den neutralen Niederlanden. Das Rheinland wird von alliierten Truppen besetzt. Am Niederrhein rückt belgisches Militär ein, um die Annexion der unmittelbar an Belgien angrenzenden deutschen Gebiete durch Frankreich zu verhindern. Am Morgen des 14. Dezember 1918 zieht belgische Infanterie, von Krefeld aus kommend, durch St. Tönis. In ihrem Tagebuch vermerkt die St. Töniserin Hedwig Lütz: „Wir sahen sie, ein paar hundert Meter entfernt, auf der Krefelder Straße vorbeiziehen. Bei Otto Langels war der ganze Hof voll plündernder Belgier. Uhren, Diamantringe, Schmucksachen, alles weg.“ Bald ist das erste Chaos des Einmarsches vorbei, und zu Weihnachten notiert die St. Töniserin: „Nun sind die Belgier schon über eine Woche hier, und alles, was recht ist: Sie benehmen sich ganz gut.“ Aber dann ist wieder von Gewalttaten durch versprengte Soldaten die Rede, die den regulären Truppen folgen und ihre Uniform zur Plünderung missbrauchen.
Das Jahr 1919. Nachdem in Weimar eine neue Verfassung beraten worden ist, wird Deutschland Republik – und hat schwer an den Folgen des verlorenen Krieges zu tragen. Die Währung ist durch Kriegsanleihen zerrüttet; eine Hyperinflation lässt die Preise in schwindelnde Höhen klettern. An die Siegermächte sind ungeheure Reparationen zu zahlen. Als das Deutsche Reich diese Lieferungen teilweise einstellt, besetzen ab dem 11. Januar 1923 belgische und französische Soldaten das Ruhrgebiet, um ihre Stahlindustrie mit Kohle zu versorgen.
Bald bildet sich mit französischer Unterstützung eine Separatisten-Bewegung, um das schwer gebeutelte Rheinland vom Deutschen Reich und dessen Problemen abzukoppeln. Am 21. Oktober 1923 rufen Separatisten im Kaisersaal des Aachener Rathauses die „Republik Rheinland“ aus. Am darauf folgenden Morgen tritt der St. Töniser Bürgermeister Wilhelm Lucke wie gewöhnlich seinen Dienst im Rathaus an. Gerade hat er in der Zeitung gelesen, dass der Preis für einen Laib Brot auf eine Milliarde Mark geklettert ist.
Da meldet ihm ein Polizeibeamter, Separatisten hätten beim Fabrikanten Giesen, Willicher Straße, dessen Personenwagen aus der Garage geholt, als Transportmittel für ihre Stoßtrupps. Der Bürgermeister, Chef der örtlichen Polizei, greift zur Pistole und eilt mit zwei Polizeibeamten zur Willicher Straße. Dort steht Giesens Pkw, daneben ein Ford-Lieferwagen. Auf den zieht sich jetzt eine Gruppe von etwa zehn Separatisten schießend zurück. Die Beamten erwidern das Feuer. Nach mehrmaligem Schusswechsel setzt sich der Lkw in Richtung Willich in Bewegung.
In St. Tönis hat sich herumgesprochen, dass Separatisten die Gegend unsicher machen. Vor dem Rathaus trifft der Bürgermeister auf eine wartende Menschenmenge. In diesem Augenblick fährt der bewaffnete Separatistentrupp vor, mit dem Lucke und seine Polizisten kurz zuvor einige Schüsse gewechselt haben. Die „Kämpfer für eine Rheinische Republik“ fordern Lucke in dessen Dienstzimmer auf, sich ihnen zu unterstellen. Der reagiert heftig: „Ich habe meinen Treueid der deutschen Regierung geleistet und nicht Ihrem Verräterkonsortium!“
Am darauf folgenden Abend, 23. Oktober, setzt in Krefeld die Belagerung des dortigen, mit Stacheldraht verbarrikadierten Rathauses ein. Oberbürgermeister Johannes Johansen führt das Kommando über einen Trupp entschlossener Verteidiger: die Krefelder Polizei und etwa hundert Freiwillige aus der Bürgerschaft. Da hastet ein Polizeibeamter mit einer Nachricht zum Oberbürgermeister: Seine Frau und seine Tochter sind von den Separatisten aus ihrer Wohnung am Westwall als Geiseln verschleppt worden, würden erst nach bedingungsloser Übergabe des Rathauses freigelassen.
Aber Johansen setzt den Kampf fort, bis ihm am folgenden Vormittag die Munition ausgeht. Was er nicht weiß: Die Frauen werden in St. Tönis in einem Haus an der Marktstraße festgehalten, aber noch am selben Tag auf Anweisung der belgischen Besatzung wieder frei gelassen.
Am Abend des darauf folgenden 24. Oktober 1923 verlangt ein Separatist im St. Töniser Rathaus von Bürgermeister Lucke erneut die Übergabe. Dann nimmt er Platz, wartet auf einen bewaffneten Trupp, der aus Krefeld telefonisch angekündigt hat, auch in St. Tönis das Rathaus besetzen. Aber die Kämpfer bleiben in Krefeld, weil dort ein Gegenangriff der Polizei erwartet wird. Auf dem St. Töniser Rathausplatz fordern aufgebrachte Bürger, ihnen den Separatisten-Unterhändler zu übergeben: „Heraus mit dem Kerl! Wir hauen ihm die Jacke voll!“ Damit ist der Spuk für St. Tönis zu Ende.