Willich unter Strom: Als das Liht in die Stadt kam
Historie: In der Zeit des Kaiserreichs werden die Niederrheiner zu Preußen. Außerdem naht die Moderne mit großen Schritten.
Willich. März 1871: Deutsche Truppen haben, wie von Helmut von Moltke geplant, Frankreich besiegt. Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck hat mit List und Gewalt das Kaiserreich gezimmert. An der Spitze der Schiefbahner Soldaten kehrt Bürgermeister Wilhelm Speckmann, im Kriege zeitweilig Stadtkommandant von Sedan, in den fahnengeschmückten Ort zurück. Der Sieg über den "Erbfeind" Frankreich hat die Niederrheiner endgültig zu Preußen gemacht.
Deutschlands Einigung ermöglicht einen Aufbauschwung, der zu nie gekanntem Wachstum führt. Der Fortschritt beginnt zügig - mit dem Bau der ersten Eisenbahnstrecken von Krefeld über Anrath nach Viersen (1847/48), von Krefeld über Willich nach Mönchengladbach (1871) und bis nach Neersen (1908). Der Schiefbahner Bahnhof an der Linie Neuss-Viersen (1877) lockt schon mit einer Gaststätte.
Am 1. Oktober 1910 rattert die erste Straßenbahn von Krefeld über Willich nach Schiefbahn. Die Orte, die sie durchfährt, gewinnen zunehmend an Energie. 1869 zählte Willichs Straßenbeleuchtung erst 19 Petroleumfunzeln. Nun - nach der Fertigstellung des Gaswerks (1897) - erhellen 55 Gaslaternen die Straßen, 154 Gebäude nutzen die Innovation.
1898 geht in Schiefbahn das erste E-Werk der vier Altgemeinden ans Netz, das zunächst die Webstühle der Firma Deuß & Oetker antreibt, aber auch die Straßenbeleuchtung und Privathaushalte im Ort versorgt. Seit 1901 läuft Strom durch Anrath. Neersen schließt 1899 einen Liefervertrag mit dem Stromerzeuger Mönchengladbach, Alt-Willich, seit 1903 in einigen Bezirken von Osterath aus bestromt, wird seit 1912 gänzlich vom RWE versorgt.
Neue Gebäude wachsen - Rathäuser, vor allem wie das am neuen Willicher Dorfzentrum Kaiserplatz (1892), das mit einem Spritzenhaus versehen ist; das Anrather Rathaus, 1906 zusammen mit dem neuen Krankenhaus eingeweiht. In Schiefbahn kommt’s 1892 zum Rathausneubau. In Neersen wird der heutige Minoritenplatz bis 1910 mit neuem Rathaus zur Prachtmeile gestaltet.
Grundlegend für die beschriebene Entwicklung war die wirtschaftliche Lage, die zunächst eine Krise, später Hochkonjunktur erfuhr. Zu Beginn der Kaiserzeit löste die Mechanisierung der Textilindustrie Arbeitslosigkeit und Abwanderung bei den Handwebern aus. Anrath, das kaum über Landwirtschaft verfügte, verarmte derart - auch durch einen vernichtenden Wirbelsturm 1891 - , dass allen Ernstes eine Auflösung der verschuldeten Gemeinde vorgeschlagen wurde. Rettung brachten Projekte der Regierung, vor allem die Errichtung des Gefängnisses. Arbeitsplätze entstanden durch Industrieansiedlungen: In Neersen durch die Velvet-Fabrik (1864), in Schiefbahn durch die Großweberei Deuß& Oetker, in Anrath durch eine Tuchfabrik, später Jakob Krebs AG (1889) und die Firma Carl Lange (1898); in Willich in großem Ausmaß durch das Stahlwerk Becker (1908). Allein in Alt-Willich nahm die Bevölkerung von 1861 bis 1912 um 77 Prozent zu. (Fortsetzung folgt.) HK