Chefarzt in Mönchengladbach Der Medizin-Professor, der mit 15 aus Vietnam flüchten musste

Hockstein. · Huan Nguyen hoffte 1975 vergeblich, aus Saigon fliehen zu können. Der ersehnte Helikopter kam nicht.

Der Flüchtlingsausweis von Huan Nguyen.

Foto: Elisabeth Krankenhaus/Elsiabeth Krankenhaus

Helme, Sturmgewehre, Zivilisten, Reisfelder, Rauchsäulen, Dschungel. So wurde in den 1970er Jahren aus Saigon berichtet. 1975 dann das Ende: Ein Helikopter schwebt tief über der US-Botschaft. Letzte Chance zu entkommen. Ereignisse, die der Chefarzt der Inneren/Gastroenterologie des Elisabeth-Krankenhauses nicht nur aus dem Fernsehen kennt. Prof. Huan Nguyen war damals hautnah dabei, mitten im heillosen Chaos der letzten Stunden vor der Machtübernahme der Sieger im Vietnamkrieg.

„Wir waren ganz in der Nähe der Botschaft. An einem anderen Sammelpunkt. Ein französisches Krankenhaus. Wir haben darauf gewartet raus zu kommen. Wir wussten, wir müssen alles zurücklassen“, berichtet Huan Nguyen. Wir, das waren 1975 rund 70 Vietnamesen. 70, weil der ersehnte Helikopter nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen konnte. „Aber er ist nie gekommen“, erzählt Huan Nguyen. Jede Einzelheit hat sich tief in das Denken des Mediziners eingebrannt. Das ist aus jedem seiner fast lapidar vorgetragenen Sätze zu spüren.

Kaum zu glauben, aber nach dem vergeblichen Warten ging die Familie nach Hause als sei nichts passiert. Huan war damals 15, einer von sechs Geschwistern. Er sei froh gewesen, dass der Krieg endlich vorbei war und er keine Angst mehr haben musste, sagt der heute 59-Jährige. Den Alltag habe die Familie so gerade eben bewältigen können. Schon bald habe es geheißen, „dass sich die Väter melden müssen, drei Tage Umerziehungslager. Viele kamen nicht zurück. Mein Vater nach einem Jahr.“ Gesprochen habe er nicht über die Zeit im Lager, um die Familie nicht zu gefährden, „da hätte zu viel Sprengstoff drin
gesteckt.“

Schnell haben die Nguyens zu spüren bekommen, dass sie zu den Besiegten gehören. Der Vater war Wirtschaftsprofessor an der nationalen Akademie für Verwaltungswesen, die Mutter Hausfrau. Die Kinder konnten in Saigon zwar die weiterführende Schule besuchen, aber eine akademische Laufbahn war undenkbar. „Wir versuchten, dennoch Fuß zu fassen und hatten die Hoffnung auf Besserung.“

Nguyen: „Es war klar, dass es keine Versöhnung geben würde“

Der Entschluss zur Flucht fiel 1978. Damals begann der bewaffnete Konflikt mit Vietnams Nachbarn Kambodscha. Und es stellte sich heraus, so Nguyen: „Nur die Kinder der Besiegten sollten eingezogen und an die Front geschickt werden. Das konnten wir in unserer Straße beobachten.“ Damit sei klar gewesen, „dass es keine Versöhnung mit den Kommunisten geben würde.“

Huan Nguyen wurde mit zwei Brüdern ausgewählt die gefährliche Flucht über das Chinesische Meer zu wagen. Das Szenario der Flucht war klar: Auf dem Wasser lauern thailändische Piraten, nach geglückter Flucht würden die drei Geld für die Familie verdienen. Huan Nguyen hat dies nicht als Bürde empfunden, „ich wusste nur ich will weg. Es ging ums Überleben.“

Drei Tage dauerte die Flucht. Auf dem Boot herrschten unerträgliche Zustände. 250 Menschen. Angst habe er vor lauter Seekrankheit nicht gehabt. Aber das Ende der Flucht war noch längst nicht in Sicht. Das Boot machte auf einer Insel Malaysias fest. Ein Quadratkilometer groß. Dort waren 50 000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht. Zweimal in der Woche kam ein Boot mit Wasser und Lebensmitteln.

Warten. Das war die einzige Beschäftigung am Tag. Für elf Monate. Sie standen in der Hierarchie derer, die eher ausreisen konnten, ganz unten: „Wir waren der Restmüll.“ Huan Nguyen nickt und wiederholt das Wort: „Müll. Wir waren nur der Müll der übrig bleibt.“

Dann die Erlösung. Endlich. Die Bundesregierung folgte einer Aufforderung der UN und wollte 5000 Vietnamesen aufnehmen. „Wir wurden aufgeteilt. Als Müll hat man keine Wahl. Dass wir nach Deutschland kamen, hat nur mit unserer Registrierungsnummer zu tun. Hätte sie anders gelautet, wären wir vielleicht in einem anderen Land gelandet.“ Die Brüder hätten das Angebot ablehnen können, „aber wir haben die Nerven verloren und – zum Schrecken unserer Eltern – der Aufnahme in Deutschland zugestimmt. Sie hätten uns lieber in Frankreich oder USA gesehen.“

Mit einem Linienflug ging es nach Deutschland, Unna-Massen war das Ziel. Von diesem Land habe er keine Ahnung gehabt, sagt Nguyen: „Egal wohin. Bloß weg. Wir hatten die Nase voll. Da mein älterer Bruder aber wusste, dass eine Freundin in einer Stadt ,an der westlichen Grenze’ untergekommen war, konnten wir am Ende tatsächlich nach Aachen ziehen.“ Von dort aus haben die Brüder ihren Weg gemacht, jeder für sich. Huan hat später in Heidelberg Medizin studiert und ist dann nach Aachen zurückgekehrt, an die Universität: „Aachen ist meine Heimatstadt.“

Im Rückblick haben ihm zwei Dinge geholfen: unbedingte Disziplin und Motivation, erzählt er: „Wir wussten, dass wir niemals nach Vietnam zurückkehren würden. Unsere Strategie zum Überleben war: Mach das Beste daraus und es wird gut. Ich habe entschieden: Deutschland ist von nun an meine Heimat.“ Hier will der dreifache Familienvater auch einmal beerdigt werden, „nicht zuhause.“ Seine Geschichte sei die eines politischen Flüchtlings, betont er: „Die Voraussetzungen sind also deutlich andere als die der Wirtschaftsflüchtlinge.“

Huan Nguyen ist dankbar, dass er in seiner neuen Heimat so viel Mitgefühl, Mitleid und auch umfangreiche Unterstützung erfahren hat: „Ohne das wäre ich heute nichts.“ Huan Nguyen ist ziemlich sicher, wäre er nach Frankreich oder in die USA gekommen, wäre es nicht so gewesen: „Ich habe so viele menschliche Zuwendung bekommen, um alle Schwierigkeiten im Alltag und in der Weiterentwicklung in einem vollkommen unbekannter Welt zu überwinden.“ Dies habe er seinen Kindern erzählt. Sie sollen wissen, dass jedermann auf Unterstützung anderer Menschen angewiesen ist und Hilfestellung für Menschen in der Not viel Gutes später bewirken kann.

Nun ist Huan Nguyen seit knapp 20 Jahren in Mönchengladbach. Hier hat er sein Zuhause gefunden: „Wenn ich mehr Freiraum aus dem Beruf hätte, würde ich mich mehr für Menschen in dieser Stadt einsetzen und zurückzahlen, was man in mich ‚investiert’ hat. Jetzt versuche ich es in meinem Städtischen Krankenhaus. Im Eli verbringe ich mehr Zeit als mit meiner Familie.“

Alle paar Jahre fährt er mit seiner Familie nach Vietnam, damit seine Kinder ihre Wurzeln erfahren. Wenn er aus dem Flugzeug steigt, sind sofort die Gerüche wieder da. Zum Beispiel die der Garküchen. „Das ist ein seltsames Gefühl zwischen Freude, Schmerz und
Wehmut.“