Das Datum an der Mauer Was steckt hinter dem rätselhaften Schild in Münster?

Münster · In der Innenstadt von Münster in Rathausnähe hängt ein kleines Blech an einer Wand. Darauf ein Termin: 2. April 2020, 16 Uhr. Was das zu bedeuten hat.

Die verklinkerte Mauer, an der das unscheinbare Schild mit dem Datum hängt. Im Hintergrund ist das Rathaus von Münster zu sehen.

Foto: Peter Kurz

Ein kleines weißes Blechschild, darauf ein Datum: 2. April 2020, 16 Uhr. Es hängt unscheinbar an einer verklinkerten Hauswand in Münster. Jedoch an exponierter Stelle – am Michaelisplatz zwischen historischem Rathaus und Marktplatz. Tausende Menschen gehen jeden Tag daran vorbei. Am Markttag sind es Zehntausende. Und doch werden wohl die meisten das 20 mal 30 Zentimeter kleine Schild in drei Metern Höhe übersehen.

Diejenigen, denen es auffällt, rätseln vielleicht kurz, gehen weiter, vergessen es wieder. Andere mögen an einen Spinner denken, der da das Datum, die Stunde und Minute des Weltuntergangs prophezeit. Und dann gibt es die, die es genauer wissen wollen und sich an eben dieser Stelle einfinden werden. Am 2. April 2020, kurz vor 16 Uhr. Es werden viele sein, das lässt sich jetzt schon vorhersagen. Menschen, die neugierig sind, was denn da passieren wird. Und die, die es schon wissen und eben deshalb kommen. Denn es wird sich dasselbe ereignen wie schon seit 20 Jahren im Vierjahresabstand, nur Tag und Stunde variieren jeweils leicht.

Ein Mensch mit einer Leiter wird in Aktion treten

Nein, es wird kein Freibier geben. Es wird jemand kommen mit einer Leiter, er klettert ein paar Sprossen hoch, dreht die vier Schrauben los, mit denen das Schild in der Wand verankert ist. Und befestigt ein neues Blech an der Wand. Beobachtet von einer im Laufe der Jahre wachsenden Menschenschar. Zuletzt geschah dies am 3. April 2016 um 17.15 Uhr. Und wenn dann am 2. April das neue Schild befestigt wird, so wird es auf das Jahr 2024 verweisen. Das genaue Datum kennt die Stadt Münster, denn die hat die Rechte an dieser Kunstaktion und den Schildern. Erworben im Jahr 2000 von dem Konzeptkünstler Mark Formanek.

Das Schild aus der Nähe.

Foto: peter Kurz/Peter Kurz

Merle Radtke ist Leiterin der Kunsthalle Münster. Sie hat nicht nur das Schild in ihrem Besitz, das im kommenden April aufgehängt wird, sondern noch vier weitere: Das letzte dieser Bleche wird 2036 montiert. „Es verweist auf den 14. März 2040, 17.30 Uhr“, verrät Radtke.

Und was soll das Ganze? Da wird ein Schild ab- und ein neues aufgehängt. Gewiss, Münster ist bekannt für seine Kunst im öffentlichen Raum. Aber so ein Schild – ist das Kunst? Es gibt da den bekannten Banausensatz: Ist das Kunst oder kann das weg? Bei dieser Aktion scheint zu gelten: Selbst wenn dieses Blechschild Kunst ist, kann es weg – eben wenn es abgehängt wird. Doch das wäre zu einfach.

Mit dem Gedanken „Kunst liegt im Auge des Betrachters“ kommt man der Sache schon näher. Radtke denkt diesen Gedanken weiter: „Hier geht es um den Betrachter selbst. Das Schild ist nur eine Art Werkzeug für das, was dann mit den Leuten passiert. Die Menschen selbst sind das angekündigte Ereignis“, sagt Radtke. Die Menschen, die da an diesem Datum zusammenkommen, sich vielleicht verabredet haben, dabei zu sein. Und sich dann erneut verabreden: Wir sehen uns in vier Jahren wieder. Die grübeln, was wird dann sein mit mir, mit dir? Oder die Erinnerung: Weißt du noch, vor vier Jahren….

Das Schild als Werkzeug, das zum Grübeln verleitet

Es ist Performance-Kunst, die live stattfindet, an diesem einen Tag, an diesem einen Ort, mit den Menschen, die dann gerade anwesend sind. Diesen Werkzeugcharakter hat das Schild, das Menschen zusammenbringt, auch in anderer Hinsicht. Denn schon in dem Moment, in dem der Betrachter, der das Schild zum ersten oder wiederholten Mal betrachtet, löst es etwas aus. Er oder sie gerät ins Grübeln über  die Bedeutung dieses seltsamen Datums. Ein ganz bestimmter Tag in der Zukunft.

„Es geht um das Phänomen Zeit“, sagt auch Kunsthallen-Chefin Radtke. Sonst regten meist Jahrestage, Geburtstage oder wiederkehrende Feiertage zum Nachdenken über das Verfließen der Zeit an. Hier komme ein einzelnes rätselhaftes erscheinendes Datum hinzu. Ein Datum, das den Passanten, der im Gewusel der Wochenmarkthektik über das Schild stolpert, zum Grübeln verleitet.

Die Blechschild-Kunst von Münster erinnert an das Phänomen Flashmob. Bei einem solchen spontanen Menschenauflauf beginnen die Teilnehmer eine für die Unbeteiligten überraschende Aktion. Eine Aktion, die sie kurzfristig vorher abgesprochen haben. Etwa ein gemeinsames grundlos erscheinendes Applaudieren oder Singen. Mal politisch motiviert, mal völlig sinnfrei. Bei dem Datumsschild in Münster hingegen gilt lediglich die Aufforderung: Sei an dem Tag zu der Stunde da. Und dann… schau’n wir mal.