Inobhutnahme: Wenn das Kind gefährdet ist
Das Jugendamt nimmt nur in Notfällen ein Kind aus der Familie heraus.
Neuss. Vor kurzem erst kam die Nachricht beim Jugendamt an, anonym, wie so oft in diesen Fällen. Ein Kind verwahrlose, hieß es, und eine Neusser Adresse wurde genannt. Verwahrlosung: Das heißt "Kindeswohlgefährdung", und entsprechend handelte das Amt sofort. Der Anruf hatte seine Berechtigung. Die Wohnung unaufgeräumt und verdreckt, schmutziges Geschirr, das Kinderzimmer so vollgestellt, dass es kaum zu nutzen war, das Kind schlief auf einer Matratze auf dem Boden. "Grenzwertig" nennt das Dolores Burkert, stellvertretende Jugendamtsleiterin.
Grenzwertig soll heißen: Kann das Kind in der Familie bleiben, kann der Familie so geholfen werden, dass das Kind keinen Schaden nimmt? Oder muss der Junge aus der Familie herausgenommen werden; "Inobhutnahme", wie es im Amtsdeutsch heißt? In diesem Fall setzten die Mitarbeiter der Stadt eine Zwei-Tages-Frist. Aufräumen, putzen und entrümpeln war angesagt, gleichzeitig vermittelte das Amt über die Caritas Möbel, organisierte für das kleinere Geschwisterkind einen Kindergartenplatz.
In den zwei Tagen passierte viel, es folgte Kontrolle, Beratung, nun wird sich ein Jahr sozialpädagogischer Familienhilfe vor Ort anschließen. Das Kind lebt nach wie vor bei seiner Familie. Es wird viele Besuche geben.
Es ist ein typischer "Fall", den Dolores Burkert schildert. Immer wieder haben die Mitarbeiter mit Vernachlässigung von Kindern zu tun, sie sehen verwahrloste Kinder, verstörte, aggressive, auch gedemütigte oder missbrauchte. Gerade bei kleinen Kindern versuchen die Mitarbeiter, die Heimunterbringung zu vermeiden. Erstes Ziel ist es ohnehin, in der Familie zu helfen. Sind die Zustände zu krass, ist eine Krise zu überwinden, wird das Kind aus der Familie herausgenommen - auch gegen den Willen der Eltern. Das muss dann von den Gerichten bestätigt werden.
Für diese Jungen und Mädchen stehen zwölf "Bereitschaftspflegefamilien" bereit. Sie haben sich verpflichtet, Tag und Nacht ein solches Kind für eine Übergangszeit von höchstens drei Monaten aufzunehmen. Viel Idealismus spiele da eine Rolle, sagt Dolores Burkert. Anders als in einer klassischen Pflegefamilie geht es hier darum, akute Notfälle aufzufangen. Etwa 1000 Euro erhalten die Familie dafür im Monat, auch fachliche Unterstützung. Ein Heimplatz kostet allein 120 Euro am Tag.
Dennoch bleibt auch die Heimunterbringung eine Option, vor allem bei Jugendlichen. 70 Kinder werden im Schnitt jedes Jahr aus einer Neusser Familie herausgenommen. Manchmal geht die Initiative auch von den Jugendlichen selbst aus.
Die Zahl der Meldungen beim Jugendamt steigt. Nicht zuletzt wegen der dramatischen Vorfälle der letzten Zeit von Iserlohn bis Bremen seien die Menschen sensibilisiert, so die Jugendpflegerin. "Das ist uns sehr lieb, wir nehmen jeden Anruf ernst." Aber auch der Missbrauch mit diesen Anrufen nimmt zu. Nachbarschaftsstreit ist so manches Mal der Hintergrund, öfter noch ist es der "Rosenkrieg" nach einer Trennung.
Dolores Burkert ist überzeugt von der guten Arbeit beim Neusser Jugendamt. Ein Handbuch gibt den Mitarbeitern eine Richtschnur, wann wer einzuschalten, zu informieren, zu fragen ist. Alle 22 Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst sind besetzt - keine Selbstverständlichkeit in den Kommunen. Dass ein Kind auch in Neuss nach Vernachlässigung oder Misshandlung sterben könnte, mag aber auch die stellvertretende Amtsleiterin nicht ausschließen. So engmaschig könne leider kein Netz sein.