Nach Vorfall in Neuss Wie man religiöser Radikalisierung an Schulen begegnet
Neuss/Bonn · An einem Runden Tisch gegen Extremismus sollen nun die jüngsten Ereignisse an der Gesamtschule Nordstadt aufgearbeitet werden. Ob diese Maßnahme zielführend ist, stellt die Fraktion Linke/Tierschutz infrage. Doch wie lassen sich radikalisierte Jugendliche erreichen? Das wissen die Experten vom NRW-Präventionsprogramm Wegweiser.
(jus/KNA) Es ist eine Frage, welche besonders die Neusser mit Blick auf die jüngsten Ereignisse an der Gesamtschule Nordstadt umtreibt: Was ist zu tun, wenn sich Schüler radikalisieren? Erst im Januar wurde nach Berichten bekannt, dass vier Oberstufenschüler der Schule andere muslimische Mitschüler mit abweichenden Ansichten kritisiert und teils unter Druck gesetzt haben. Dies ging aus einem vertraulichen Staatsschutzpapier hervor. Vor diesem Hintergrund fand am Dienstag eine gemeinsame Sondersitzung des Schul- und Jugendhilfeausschusses statt, in der die Einrichtung eines Runden Tisches gegen Extremismus beschlossen wurde. Ob es sich hierbei um die richtige Herangehensweise handelt, stellen einige Neusser jedoch infrage. Die Fraktion Linke/Tierschutz spricht von „blindem Aktionismus“. Schon heute seien viele Stellen wie der schulpsychologische Dienst oder das Team von „Wegweiser“ für die professionelle Krisenintervention in Schulen zuständig – auch in Fällen von religiösem oder politischem Extremismus. Doch weder diese Einrichtungen noch die Schulen selbst hätten Bedarf an einem „runden Tisch“ geäußert, der sich in den Schulalltag einmische und die Arbeit der professionellen Dienste störe, wie die Fraktion kritisiert. „Es wäre deshalb sachgerecht gewesen, erst einmal nachzufragen, ob Verwaltung und Politik überhaupt Hilfe leisten können, und wenn ja: welche?“, so Fraktionsvorsitzender Roland Sperling.
Die Landesregierung bietet
zahlreiche Programme an
Auch sein Fraktionskollege Thomas Schwarz übt Kritik am Beschluss: „Wenn Politik und Verwaltung mit Halbwissen Druck auf die Schulen und damit auch auf die Schüler und Schülerinnen ausüben, führt das nicht zu Lösungen, sondern zu zusätzlichen Problemen.“ Hintergrund: In der Sondersitzung wurde die Verwaltung beauftragt, im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeit (im Bereich Jugendhilfe, Schulsozial- und Integrationsarbeit) die Organe der Schulen bei der Aufarbeitung der geschilderten Vorkommnisse zu unterstützen und den Informationsaustausch untereinander zu intensivieren. Darüber hinaus soll sie prüfen, welche zusätzlichen Maßnahmen und Angebote insbesondere im Bereich der kommunalen Präventionsarbeit geschaffen werden sollten. Auch die Landesregierung bietet zahlreiche Programme an. Denn religiöse Radikalisierung ist in Nordrhein-Westfalen kein Einzelfall. Laut Innenministerium gab es im Bundesland allein in den vergangenen beiden Jahren Vorfälle an 29 Schulen. Aber wie lassen sich junge Menschen erreichen, die nur noch in ihrer radikalen Glaubenswelt leben?
Das wissen Frank Vallender vom Bonner Amt für Integration und Vielfalt und das Bonner Team des NRW-Präventionsprogramms Wegweiser. „Wir haben in der Gesellschaft allgemein eine Tendenz zur Radikalisierung. Auch Wegweiser hat in den letzten Jahren deutlich mehr Anfragen bekommen“, erklärt der Islamismus-Experte. Auch die Art der Anfragen habe sich geändert: „Früher gab es mehr klare Gewaltbereitschaft, heute bewegen sich Vorfälle oft in einer Grauzone unter der strafrechtlichen Relevanz.“ Viele Menschen seien unsicher, was von der Religionsfreiheit gedeckt und was radikal sei. Hier müsse die Beratung ansetzen. Darüber hinaus seien Sensibilisierung und Aufklärung Kernelement ihrer Arbeit. Die Experten leiten Workshops, beraten Lehrer und Angehörige von Jugendlichen. Das Wegweiser-Team, das an 25 Standorten in NRW vertreten ist, legt Wert auf eine gezielte Einzelberatung und die Beantwortung von Sachfragen zum Islam. Mit den Angeboten aber auch junge Radikale zu erreichen, sei nicht einfach. „Tatsache ist, eine radikalisierte Person würde sich nie freiwillig bei Wegweiser melden“, so ein Mitglied des Wegweiser-Teams. Radikale Jugendliche seien oft blind für andere Meinungen. „Um sie anzusprechen, müssen wir den Bezugspersonen intensiv erklären, wie sie das Problem angehen und darüber reden können. Das ist oft unsere letzte Chance.“ Erst wenn das nicht wirke und Jugendliche extremer würden, ende die Zuständigkeit von Wegweiser, erklärt Vallender. „Extremismus ist Sache der Sicherheitsbehörden. Wenn in unserer Arbeit etwas strafrechtlich Relevantes auftaucht, dann geben wir den Klienten ab.“ Dann übernehme etwa das Aussteigerprogramm Islamismus des Innenministeriums. Um aber solche Fälle zu verhindern, arbeite man mit einem Netzwerk zusammen, zu dem unter anderem weitere städtische Ämter und Beratungsstellen oder Präventionsexperten der lokalen Polizei gehören.
Das Wegweiser-Team beobachtet ein gestiegenes Bewusstsein zur Notwendigkeit einer Islamismus-Prävention. In den Workshops gebe es immer mehr Schüler, die sich mit Meinungen zur Religion befassen, die sie sich sonst nie angehört hätten: Statt beleidigenden Streitgesprächen auf dem Schulhof werde ein Austausch auf Augenhöhe geführt, wie die Experten berichten. Trotz aller Erfolge bleibt das Thema aber akut. Für die Zukunft ist bei Wegweiser Vallender zufolge deshalb noch mehr Manpower wünschenswert.