Telefonseelsorge hilft immer häufiger Menschen mit Depression
Rhein-Kreis. Einer von fünf Anrufern, die eine Nummer der Telefonseelsorge gewählt haben, leidet unter depressiver Verstimmung, ist unendlich traurig. Das ist neu. Bisher galt, dass Ratsuchende vor allen dann die Hilfe bei den anonymen Gesprächspartnern suchten, wenn ihr soziales Umfeld aus dem Gleichgewicht geraten war: Einsamkeit, Probleme in Partnerschaft, Familie oder Freundeskreis.
„Die inhaltlichen Schwerpunkte haben sich verschoben“, sagt Diplom-Psychologin Barbara Keßler (50), die seit dem Jahr 2000 die kreisweit operierende Telefonseelsorge Neuss leitet.
Sie weiß, dass sich inzwischen jeder vierte Anrufer bereits in psychotherapeutischer Behandlung begeben hat. Was können da die gut geschulten Ehrenamtler am Telefon leisten? „Einfach Dasein“, sagt Keßler, „Tag und Nacht. Das hilft oft. Zweitens versuchen wir zu ermutigen und als dritter Aspekt kommt hinzu, dass wir gemeinsam mit dem Anrufer die für ihn schwierige Situation aushalten.“
Seit 1997 operiert die Telefonseelsorge Neuss kreisweit; sie wird getragen vom Verband der Katholischen Kirchengemeinden im Kreisdekanat und dem Evangelischen Kirchenkreis Gladbach-Neuss. Seit 20 Jahren wird diese wichtige Arbeit vom Förderverein unterstützt. Die 60 Mitglieder steuern unter dem Vorsitz von Martin Straaten (60) nach eigenen Angaben jährlich zwischen 10 000 und 20 000 Euro bei; Geld das vor allem für Aus- und Weiterbildung der 55 ehrenamtlichen Helfer eingesetzt wird. Auch werden Begegnungen des Teams gefördert, um das Wir-Gefühl zu steigern. „Die Ehrenamtler können nicht öffentlich gefeiert werden“, sagt Straaten, „darum müssen wir intern unsere Wertschätzung zum Ausdruck bringen.“
Barbara Keßler, Diplom-Psychologin
Mit einem Budget von 270 000 Euro — rund zehn Prozent davon trägt der Rhein-Kreis über einen Zuschuss — gewährleistet die Telefonseelsorge, dass die Anschlüsse 365 Tage im Jahr rund um die Uhr besetzt sind. Täglich klingeln die Apparate bis zu 50 Mal; 15 518 Anrufe waren es im Vorjahr insgesamt. Hinzu kommen Gesprächsangebote im Internet. „Der Bedarf ist ungebrochen“, sagt Barbara Keßler.
Ihre größte Sorge ist es, neue qualifizierte ehrenamtliche Helfer zu finden. Gern hätte sie ein 70-köpfiges Team, doch davon ist sie noch ein gutes Stück entfernt. Derzeit sind zwölf Bewerber in der umfassenden Ausbildung, die eineinhalb Jahren dauert. Statistisch gesehen hält ein Helfer fünf, sechs Jahre durch. Die Verweildauer hat sich gegenüber vor zehn Jahren halbiert. Die Belastung sei hoch, berichten Keßler und Straaten, die sich wünschen, dass Helfer möglichst lange dabei bleiben, „weil ja die Ausbildung auch so lange dauert und anspruchsvoll ist“.
Da ist ein Mitstreiter ein gutes Vorbild. Er ist seit 28 Jahren dabei. Jetzt macht er Schluss — als 84-Jähriger. Mit dem alten Herrn verliert die Minderheit einen Weggefährten, denn nur 40 Prozent der Helfer sind männlich. Alle, Frauen und Männer, werden aufmerksam betreut, damit sie ihren Dienst auch verrichten können. Einmal im Monat bietet die Telefonseelsorge eine Supervision an. „Das ist wichtig für die Seelenhygiene“, sagt Barbara Keßler.
Die Telefonseelsorge wird von Menschen aus allen Bildungsschichten gesucht, darunter viele Schwerkranke, auch Obdachlose und Menschen, die sich, als „aus der Gesellschaft gefallen“ ansehen. Wenn die eine Hälfte der Anrufe beklage, über keine gesellschaftliche Teilhabe zu verfügen, fühle sich die andere Hälfte in Familie und Beruf überfordert. Auffallend sei, dass nun auch „vermehrt Anrufe aus dem türkisch-stämmigen Bereich“ registriert werden. Da muss die Leitung auch Antworten auf die Frage nach Sprachkompetenz in der Begleitung von Migranten finden.