Analyse Soll die Kirche den Missbrauchs-Tätern vergeben?
Münster/Düsseldorf · Der hochemotionale Streit über eine Predigt in Münster berührt ein Kernthema des christlichen Glaubens.
Frust, Empörung und Fassungslosigkeit: Nach einer umstrittenen Predigt in Münster zu sexuellem Missbrauch und Vergebung haben sich viele Gemeinde-Mitglieder gegen den kritisierten Pfarrer gestellt. Dieser habe Parallelen gezogen zwischen gescheiterten Ehen und der von Seelsorgern ausgeübten sexuellen Gewalt, kritisierte ein Redner, der an dem Eklat-Gottesdienst Ende Juni teilgenommen hatte. Er habe gedacht: „Das ist doch pervers.“ Dann sei er aus der Kirche gelaufen, schilderte er am Montagabend bei einem öffentlichen Gespräch in der Heilig-Geist-Kirche.
In seiner frei und ohne Manuskript gehaltenen Predigt in der katholischen Kirche hatte der emeritierte Pfarrer Ulrich Zurkuhlen (79) um Vergebung geworben für Priester, die sexuellen Missbrauch begangen haben. Viele Besucher hatten den Gottesdienst entsetzt vorzeitig verlassen. Sie sollten nun am Montag die Gelegenheit bekommen, ihrer Wut und Enttäuschung freien Lauf zu lassen. Der Bischof von Münster, Felix Genn, hatte Zurkuhlen bereits aufgefordert, bis „auf Weiteres“ nicht mehr zu predigen.
„Herr Zurkuhlen, der braucht hier wirklich nicht mehr zu predigen“, meinte eine Teilnehmerin. „Null sensibel“ und „arrogant“ habe sich der 79-Jährige verhalten, die Opfer zudem völlig außer Acht gelassen, monierten andere Redner. Rund 150 Gemeinde-Mitglieder waren am Montagabend zu dem Gespräch gekommen. Manche rangen um Fassung.
Es gibt kein Recht
auf Vergebung
Zurkuhlens Äußerung widerspreche den Bemühungen in der Gemeinde und des Pastoralteams, betonte der zuständige leitende Pfarrer Stefan Rau. Opfern müsse Gerechtigkeit widerfahren. Es hätten auch Opfer am kritisierten Gottesdienst teilgenommen. Schon zuvor hatte Pfarrer Rau Zurkuhlen widersprochen. Kein Täter habe „ein Recht auf Vergebung“.
Zurkuhlen hatte an dem Gespräch am Montag laut Rau nicht teilnehmen wollen. Der kritisierte Geistliche hatte sich nach dem Eklat unbeirrt gezeigt, auf Anfrage kürzlich betont: „Man kann theologisch gesehen auch Priestern vergeben, die sich an Minderjährigen vergangen haben.“ Auf seiner Homepage beharrte er am Montag: Er habe in der Predigt gesagt, „dass ich es an der Zeit fände, dass unsere kirchlichen Hierarchen doch auch den Missbrauchs-Tätern irgendwann vergeben würden“.
Der Streit berührt eines der zentralen Themen des christlichen Glaubens. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ heißt es im Vaterunser. Dahinter steht die Vorstellung, dass kein Mensch vollständig vor Gott bestehen kann, sondern auf Vergebung angewiesen ist. Daraus erwächst eine Verantwortung, selbst nicht ungnädig durchs Leben zu gehen.
Aber dieser christliche Auftrag ist keinesfalls als schneller Reflex zu verstehen. Auch nach biblischem Verständnis muss geschehenes Unrecht gesühnt werden. Wo das zu Lebzeiten nicht gelingt, vertrauen die Christen auf Gottes Gerechtigkeit. In jedem Fall aber bleibt menschliche Vergebung ein Geschenk: Sie kann weder von Opfern verlangt noch von Tätern erwartet werden.
Zumal es in der jetzigen Phase, in der kirchliche Hierarchien zunächst dafür geradestehen müssen, über Jahrzehnte den Missbrauch in den eigenen Reihen vertuscht, kleingeredet und ignoriert zu haben, in erster Linie um die Opfer und die Anerkennung ihres erlittenen Leids gehen muss. „Ein jegliches hat seine Zeit“, heißt es im Alten Testament. Daran gemessen, kommt die Forderung nach Vergebung für die Täter zur Unzeit.
Was nicht heißt, dass nicht Betroffene selbst oft zu erstaunlichen Gesten fähig sind. Einer der bewegendsten Fälle waren die freikirchlich engagierten Eltern des 2010 bei Grefrath ermordeten zehnjährigen Mirco.Sie entschieden sich, dem Täter zu vergeben – „auch um unsere eigenen Herzen zu entgiften“, wie sie der „Welt“ sagten.