Jobverluste treffen Psyche Therapeuten warnen: Industriekrise gefährdet Psyche
Düsseldorf · Massenentlassungen in NRW könnten die Psyche vieler Menschen schädigen. Therapeuten sehen vor allem im Ruhrgebiet eine alarmierende Entwicklung - und fordern leichteren Zugang zu Privatpraxen.
Der Verlust Tausender Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen könnte nach Ansicht der Psychotherapeutenkammer NRW erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen in der Region haben. Besonders alarmierend sei die Situation im Ruhrgebiet, das aufgrund struktureller Defizite in der therapeutischen Versorgung ohnehin benachteiligt sei, sagte Kammerpräsident Andreas Pichler der Deutschen Presse-Agentur.
Wenn große Arbeitgeber wie Thyssenkrupp oder Automobilzulieferer tausende Stellen abbauten, gerieten viele Menschen in existenzielle Notlagen. Zwar führe nicht jede Arbeitslosigkeit zu psychischen Erkrankungen, für manche sei sie jedoch „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“.
Versorgungsengpass besonders im Ruhrgebiet abzusehen
Die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland folgt einer festen Bedarfsplanung, die die Zahl der Therapeuten mit Kassenzulassung in einer Region nach einem Schlüssel pro 100.000 Einwohner bestimmt. Im Ruhrgebiet liegt diese Quote mit rund 24 Therapeuten pro 100.000 Einwohner weit unter dem Bundesschnitt von 30. Psychisch kranke Menschen warten dort im Schnitt rund sieben Monate auf einen Therapieplatz - zwei Monate länger als im Rest Deutschlands, das zeigen Daten der Bundespsychotherapeutenkammer.
Mit den geplanten Massenentlassungen drohe sich die ohnehin angespannte Versorgungssituation im Ruhrgebiet weiter zu verschärfen, sagte Pichler. Denn eine schnelle Ausweitung des Therapieangebots sei kaum möglich. Die bestehenden Praxen sind laut Pichler bereits zu 95 bis 98 Prozent ausgelastet und dürften aufgrund einer gesetzlichen Deckelung auch keine zusätzlichen Therapeuten einstellen.
Arbeitslosigkeit trifft auch Kinder hart
Der Verlust des Arbeitsplatzes wirkt sich aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychologisch auf Betroffene und deren Familien aus. Menschen mit Arbeitslosigkeitserfahrung sind laut Bundespsychotherapeutenkammer etwa doppelt so oft von Depressionen betroffen wie Erwerbstätige ohne eine solche Erfahrung.
Besonders Kinder und Jugendliche litten, wenn die Eltern plötzlich Freizeitaktivitäten wie Sport im Verein, Musikunterricht oder Kinobesuche nicht mehr bezahlen könnten, sagt Pichler. „Das führt sehr schnell zu Ausgrenzungserleben, wenn die Kinder vielleicht die Einzigen sind, die nicht mit auf die Klassenfahrt mitfahren können oder die nicht mehr beim Fußballverein mitmachen können“.
Forderung: Unkomplizierter Zugang zu Privatpraxen
Priorität müsse natürlich sein, dass Menschen rasch wieder neue Arbeit finden. Das sei jedoch eine wirtschaftspolitische Aufgabe. Um kurzfristig Entlastung bei der therapeutischen Versorgung zu schaffen, forderte der Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, die Kostenerstattung für Behandlungen in Privatpraxen zu vereinfachen.
Krankenkassen müssten schneller und unkomplizierter auch diese Kosten übernehmen, wenn Patienten in Not keinen Platz in einer Kassenpraxis finden, forderte Pichler. Bislang gebe es noch zu viele Kassen, die sagten: „Nö, das machen wir nicht“ und stattdessen von Menschen in Not forderten, „halt ein bisschen länger zu telefonieren. Das hilft so einem Versicherten natürlich überhaupt nicht weiter.“
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