Ein Buchtitel als Aufforderung. „Stell dir vor!“ heißt eine Graphic Novel, die als Neuerscheinung im Künstlerverein Malkasten präsentiert wurde. Die in dem schön gestalteten Buch erzählten fünf Comicgeschichten führen zurück in das zerstörte Deutschland nach 1945. Grundlage der jeweiligen Handlung ist eine Sammlung von mehr als 2000 Objekten aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Zusammengetragen hat sie der ehemalige Weseler Dompfarrer Werner Abresch im Laufe von drei Jahrzehnten. Inzwischen gehört die „Sammlung Abresch“ dem Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen.
Die Leidenschaft, derartige Gegenstände zu sammeln, begann bei Werner Abresch ab Mitte der 1980er Jahre, als er in der Wohnung eines Gemeindemitglieds einen Messingteller entdeckte und diesen als umgeformte Geschosskartusche erkannte. Dieses Objekt und die damit verbundene Geschichte ließen ihn nicht mehr los. Schon bald stellte er seine Funde bei kleineren Ausstellungen vor. Ab 1988 begann Abresch, seine Sammlung um Stücke aus der Kriegszeit zu ergänzen. Die ständig wachsende Anzahl der Objekte führte schließlich zu einer Dauerausstellung im ehemaligen Weseler Preußen-Museum unter dem Titel „Lebenszeichen – Nachkriegszeit und Fünfzigerjahre. Sie wurde von Abresch selbst betreut und erweitert.
Dem ehemaligen Pfarrer ging es darum, Geschichte und Geschichten der Kriegs- und Nachkriegszeit lebendig zu halten. Durch Führungen und Besuche an Schulen wollte er das Bewusstsein der jüngeren Generation für den Wert des Friedens schärfen. Als Folge von Fernsehsendungen wie „Gesucht – Gefunden“ oder der „Sendung mit der Maus“ wurde seine Sammelleidenschaft deutschlandweit bekannt. Im Künstlerverein Malkasten dankte Hans Walter Hütter als Präsident der Stiftung Haus der Geschichte den anwesenden Mitgliedern der Familie Abresch für die Übergabe der Objekte an die Öffentlichkeit.
Philipp Albrecht – einer der Söhne des Pfarrers – erzählte bei der Buchpräsentation, was ihn selbst und die ganze Familie über Jahre beschäftigte: das Aufspüren von neuen Objekten als Zeugen jener Zeit. „Mein Vater hat als Kind die Nachkriegszeit erlebt, den Hunger und die Not, dieses Gefühl, das alles kaputt war. Von Wesel war nach dem Bombenangriff der Alliierten im Februar 1945 nur noch eine Mondlandschaft übrig. Die Not machte die Menschen erfinderisch, und dieser kreative Umgang mit dem Mangel berührte meinen Vater.“
Illustrator der Graphic Novel ist der Comiczeichner Tobi Dahmen
Unter den in Bildersprache erzählten Geschichten entfaltet „Der Schneider, der vom Himmel fiel“ die größte Wirkung. Es geht darin um den Absprung zweier Luftwaffensoldaten aus einem schwer getroffenen Flugzeug. Das Datum ist der 16. Dezember 1944. Als sich herausstellt, dass einer der Fallschirme unbrauchbar ist, teilen sich die Soldaten den zweiten. Nach einer halbwegs geglückten Bruchlandung wird der rettende Seidenstoff sorgfältig aufbewahrt und wie ein Schatz gehütet. Einer der beiden Soldaten ist von Beruf Schneider, heißt auch so, und näht bald darauf aus dem Fallschirm ein Brautkleid für die Tochter. „Sie werden sicher jetzt sagen wollen, dass die Geschichte etwas anders war“, hieß es im Malkasten an die Familie Abresch gerichtet. Aus der ersten Reihe gab es ein Lächeln und zustimmendes Nicken. Na und? Was der Comic hier erzählt ist anrührend und ergreifend.
Illustrator der Graphic Novel ist der Comiczeichner Tobi Dahmen. Er hat die Familie Abresch bereits als Schüler kennengelernt und war als Weseler auch mit der großen Sammlung des Pfarrers vertraut. Als er dann hörte, dass die Sammlung in das Düsseldorfer Haus der Geschichte umziehen werde, kam ihm die Idee eines Comics, der viel mehr abbildete als Texte in einem Ausstellungskatalog. Seine Motivation beschreibt Dahmen so: „Die Ukraine und Gaza haben den Krieg wieder in unsere Nähe gebracht. Ich empfinde es daher als meine Pflicht, darauf hinzuweisen, wie kostbar unsere Demokratie ist. Unser Buch heißt „Stell dir vor!“, damit die Schrecken des Krieges sichtbar werden.“
Eine weitere ergreifende Bilgeschichte heißt „Kartoffeldiebe“. Das hier zugrunde liegende Objekt ist ein altes Fahrrad. Es besteht aus „gehamsterten“ Teilen und wurde selbst auch für „Hamsterfahrten“ genutzt. Mit dem Zweirad konnten Bewohner der zerstörten Städte nach dem Zweiten Weltkrieg Wertgegenstände oder andere Güter gegen Lebensmittel wie Kartoffeln oder Speck eintauschen. Heutzutage nehmen manche Großstadtbewohner ihr teuren Luxusbikes mit in die Wohnung. Damals war ein Zweirad als Transportmittel mindestens ebenso wertvoll.
Toni Dahmen hat den Objektcomics einen gezeichneten Epilog hinzugefügt. Es ist eine Hommage an den Pfarrer und großen Sammler Werner Abresch. Auf den Bildern sitzt er in seinem Garten und sinniert darüber, warum ihm die Alltagsworte schrittweise aus dem Gedächtnis entfallen. Während die schrecklichsten Dinge des Krieges für immer in den Erinnerungs-Synapsen steckenbleiben.