Alkoholismus: Die Sucht ruht, aber sie hört nicht auf
Michael Lingemann hat es geschafft: Der Alkohol hatte sein Leben im Griff. Doch der Wuppertaler ist seit 20 Jahren abstinent.
Wuppertal. Es hat Jahre gedauert, bis Michael Lingemann sich eingestehen konnte, dass irgendwas mächtig aus dem Ruder lief. Da machte sich etwas in seinem Alltag breit, langsam und schleichend. Genau deshalb ließ es sich so wunderbar einfach in die Normalität integrieren. Und genau deshalb wurde es zum Feind.
Lingemanns Feind, das ist der Alkohol. Auch heute noch, nach 20 Jahren Abstinenz. Denn die Sucht, das weiß er ganz genau, ist eine Krankheit, die nie aufhört. „Ich bin Alkoholiker“, sagt der 64-Jährige. „Meine Krankheit ruht, solange ich nicht trinke.“ Sie ruht, solange nichts passiert, was das Ungeheuer entfesselt. Wie Lingemann so dasitzt, mit seinem schlohweißen Haar und der Lesebrille, die Gesten ruhig und kontrolliert — dieser Mann hält jedes Ungeheuer im Zaum, meint man. Und mit dem Ungeheuer Alkohol hat er Erfahrung, das kennt er in- und auswendig. Die Fesseln, die hat er in 20 Jahren festgezurrt.
Von den eigenen Fesseln hat er sich hingegen befreit: Seit Jahren engagiert sich der Wuppertaler bei der Suchtselbsthilfe des Blauen Kreuzes. Er hat eine Ausbildung zum Suchtkrankenhelfer und zum Gruppenleiter für Selbsthilfegruppen gemacht. Inzwischen ist er auch in der politischen Lobbyarbeit aktiv: Als erster Sprecher des Fach-Ausschusses Suchtselbsthilfe NRW schlagen er und seine Mitstreiter regelmäßig im Landesgesundheitsministerium auf. Kürzlich sogar bei der Ministerin.
Er will helfen, so wie ihm geholfen wurde. Und er will sich schützen: „Diese Arbeit ist die wichtigste Brücke für mich“, sagt Lingemann. „Sie hilft mir, nicht rückfällig zu werden.“
Auch damit hat er Erfahrung. Er spricht von „sieben Vorrückfällen“, bevor er sich vom Alkohol verabschiedet und kapituliert hat. Am 15. Juli 1991 war das — am Morgen dieses Tages hat er zum letzten Mal getrunken.
Heute weiß Michael Lingemann ganz genau, womit alles angefangen hat. Er ist 20 Jahre alt, als das Unternehmen seines Vaters Konkurs macht. Der Vater wird nervenkrank und stirbt 1969, Michael Lingemann übernimmt die Verantwortung für seine kleine Schwester. Hat er was getrunken, drückt diese Belastung nicht mehr ganz so schwer auf seinen Schultern.
Hinzu kommt: Um sein Selbstbewusstsein ist es nicht allzu gut bestellt. Michael Lingemann fühlt sich zu klein, zu pummelig, zu rothaarig. „Wenn ich was getrunken hatte, fiel mir alles leichter, auch das mit den Frauen. Tanzen konnte ich nur alkoholisiert — dachte ich zumindest.“
Beziehungen kommen, Beziehungen zerbrechen. Seine zweite Lebensgefährtin lernt er auf Ibiza an einer Theke kennen, ausgerechnet. Auch sie trinkt viel, sie trinken zusammen viel. „Da war ich schon abhängig, konnte das aber noch steuern — dachte ich zumindest“, sagt Lingemann. Das ändert sich nach der Trennung, damals ist er 42 Jahre alt. Er bricht ein selbst auferlegtes Tabu: „Ich habe angefangen, mich immer öfter allein zu besaufen, daheim.“ Vorher hat er fast nur in Kneipen getrunken.
Freunde und Kollegen erkennen sein Problem, Lingemann blockt. Seine Schwester bricht den Kontakt zu ihm ab. „Sie wusste, dass sie nicht an mich herankommen würde“, sagt er.
Irgendwann geht Lingemann zum Arzt, seine Werte sind verheerend. „Da habe ich mal ein paar Wochen nichts getrunken, bis sie wieder besser waren. Und dann wieder angefangen.“ So geht das bis 1990. Dann schickt sein Arzt ihn zur Kur, verordnet eine Diät. Da fordert ihn eine Frau eines Abends zum Tanzen auf. „Ich kann nicht“, sagt Lingemann. Sie überredet ihn — und er kann doch, auch ohne Alkohol. „Im Nachhinein war das ein entscheidendes Erlebnis. Zu merken, dass ich es ohne Pegel geschafft habe.“
Aber es kommt ein letzter, herber Rückfall. Lingemann hat zwei Wochen Urlaub und ist fast durchgehend betrunken. Der Grund? Noch ein letztes Mal richtig saufen. „Ein Therapeut hat mal zu mir gesagt: ,Das war dein Abschlusstrinken.’ Noch einmal richtig.“ Danach wendet Lingemann sich ans Blaue Kreuz, geht drei Jahre lang zur Gruppentherapie. „Plötzlich hatte ich alles viel besser im Griff, vor allem im Job“, sagt er. Da war er häufig zu spät gekommen, hat Termine verpatzt. Beim Blauen Kreuz lernt er eine neue Frau kennen, die keinen Alkohol trinkt. „Das war das Sahnehäubchen — eine Partnerin, mit der das kein Thema war“, sagt Lingemann. Trotzdem muss er weitere herbe Rückschläge verkraften. 2005 wird er gekündigt, von heute auf morgen, einfach so. Er fühlt sich wertlos und denkt sofort ans Trinken. „Diesen Impuls kriegt man nie ganz weg.“ Aber es bleibt beim Impuls.
Im Juli feiert Michael Lingemann seinen 20. Geburtstag. Und am 2. Juli feiert er auch den 65. Aber der scheint ihm nicht ganz so wichtig. Das neue Leben hat vor 20 Jahren begonnen. Am 15. Juli 1991.