Stunde Null Als 16-Jähriger durch den Wald geflüchtet

Horst Rosenberg flieht von seiner Flak-Kompanie im April 1945 und rennt von Sprockhövel nach Wichlinghausen ins Elternhaus zurück.

Foto: Stefan Fries

Es ist Ende 1944, als der 16-jährige Horst Rosenberg einen Brief von seinem Lehrmeister bekommt. „Für dich, ein Einstellungsbefehl.“ Bis dahin hatte es der Krieg vergleichsweise gut mit der Familie gemeint, alle sind am Leben, sie wurden nicht ausgebombt, der Vater muss nicht an die Front, sondern sorgt für einsatzbereite Kriegsfahrzeuge. Jetzt aber muss der Sohn in den Kampf ziehen.

Der Vater schärft ihm ein: „Versuch nicht, den Helden zu spielen. Halt dich von den Kämpfen so weit wie möglich fern.“ Horst, der im Ruhrgebiet eingesetzt wird, hält sich daran. Die Einkesselung durch die Alliierten wird von Woche zu Woche enger, die Flak-Kompanie ist auf dem stetigen Rückzug.

Schließlich schlagen die etwa 80 Männer eines ihrer Nachtlager in Sprockhövel auf und der 16-jährige Wichlinghauser sieht seine Stunde gekommen. „Ein alter Hase hatte uns Jungen schon leise geraten: Wenn ihr es irgendwie schafft, haut ab! Das spukte mir die ganze Zeit im Kopf herum.“ Der 16-Jährige hatte schon Radtouren in der Gegend gemacht, kannte sich aus. „Ich hab meinem Vorgesetzten gesagt: Ich leg mich da drüben in den Wald schlafen.“ Da hab ich eine Weile gelegen, dann bin ich um 23 Uhr leise los.“

Während Horst Rosenberg das in seiner Eigentumswohnung in Ronsdorf erzählt, zieht sich seine Frau Irmgard zurück. „Ich kann das ganz schlecht hören“, sagt sie später. Auch bei ihr, die den Krieg in Norddeutschland erlebte, sitzen die Wunden tief. Aus dem Nebenraum hört sie aber vieles mit. Ihr Mann erinnert sich beim Erzählen zwischendurch plötzlich an die stumme Gegenwart seiner Frau und sagt: „Meine Frau hört das jetzt zum ersten Mal.“

Im April 1945 weiß der 16-Jährige Horst, dass er keinesfalls über die Hauptstraße nach Hause laufen darf. Deutsche könnten ihn als fahnenflüchtig stellen, Amerikaner in seiner Flakhelfer-Uniform verhaften.

So schlägt er sich durch den Wald, immer parallel zur Hauptstraße — über Herzkamp und Gennebreck. Die ganze Zeit dröhnen Bomben und erhellen die Nacht. Der 16-Jährige wirft sich immer wieder auf den Waldboden in die Brennnesseln.

Als er in der Dämmerung in Wichlinghausen ankommt, bieten sich ihm gespenstische Szenen. Die Häuser sind verriegelt, überall sind Militärfahrzeuge abgestellt. Deutsche Soldaten hämmern verzweifelt an Türen, um Privatkleidung zu ergattern, bevor die Alliierten kommen. Mit geschundenen Füßen, brennender Haut und völlig erschöpft erreicht Horst sein Elternhaus.

„Nachdem ein älterer Nachbar im Haus mich erkannte und einließ, konnte ich meine vor Glück erstarrte Mutter in die Arme schließen.“

Horsts Mutter ist hochschwanger mit einem Jungen, versorgt die älteren Kinder Horst, Gerd und Sigrun im Versorgungschaos der „Stunde Null“. Der Vater kommt sechs Monate nach dem Krieg aus der Gefangenschaft zurück. „Mager, verlumpt, aber gesund.“

Wie die Mutter es geschafft hat, in der ersten Zeit mit drei Kindern und einem Säugling über die Runden zu kommen, daran kann sich Horst Rosenberg nur noch schemenhaft erinnern. Auch er hat sich immer wieder aufs Fahrrad gesetzt, hat die Bauernhöfe abgeklappert und Lebensmittel aufgetrieben.“

"Erst heute wird mir bewusst, dass wir damals die ganze Zeit keinen Arzt benötigt haben.“

Am Schluss zeigt Horst Rosenberg noch ein Foto von seiner Mutter im Alter. „Sie ist 93 Jahre alt geworden. Sie war eine starke Frau.“