Schmerzen, Stürze, Frakturen – „das gehört doch zum Altern dazu“ – diesen Satz höre ich oft. Doch was als „normal“ empfunden wird, kann auf eine behandelbare rheumatische Erkrankung hinweisen. Und: Das tatsächliche Alter eines Menschen lässt sich nicht allein am Geburtsdatum festmachen.
In der Medizin erleben wir immer wieder, dass sich zwei gleich alte Menschen in ihrer Gesundheit stark unterscheiden können. Die eine 75-jährige Patientin wandert wöchentlich durchs Bergische Land, der andere 75-jährige Patient ist pflegebedürftig. Beide sind gleich alt – doch ihr Gesundheitszustand ist völlig unterschiedlich.
Wie alt bin ich wirklich? Im Ausweis steht das chronologische Alter – doch das sagt wenig darüber aus, wie fit oder gesund jemand ist. Wichtiger ist das biologische Alter, also der Zustand von Körper und Geist. Es spiegelt wider, wie gut Organe, Muskeln, Immunsystem und Gehirn funktionieren. Während das chronologische Alter automatisch voranschreitet, kann das biologische Alter unterschiedlich schnell altern – je nach Lebensstil, Erkrankungen und genetischer Veranlagung.
Besonders im höheren Alter nehmen sogenannte geriatrische Syndrome zu: Mehrfacherkrankungen, Gebrechlichkeit und Einschränkungen in der Alltagsbewältigung. Auch das Immunsystem altert – das kann anfälliger für Infektionen und Krebs machen und Krankheiten wie Rheuma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Demenz begünstigen.
Das biologische Alter ist schwer messbar. Ein Ansatz ist die Erfassung medizinischer Probleme und der Alltagskompetenz. Gerade bei älteren Menschen mit Rheuma liegen häufig auch andere medizinische Probleme und Einschränkungen in der Alltagsfunktion vor. Oft sind diese Patienten auch vorgealtert, das heißt, sie sind biologisch älter als ihr chronologisches Alter.
Die moderne Altersmedizin setzt auf strukturierte, interdisziplinäre Konzepte. Ein Beispiel ist das sogenannte 5M-Modell. Es umfasst fünf zentrale Bereiche: Mind (Geist), dem Erkennen und Behandeln geistiger Einschränkungen wie Demenz oder Depression; Mobility (Beweglichkeit), dem Erhalt der Mobilität und Selbstständigkeit; Medications (Medikamente), der Vermeidung von Nebenwirkungen durch kritische Überprüfung der Arzneimittel; Multicomplexity (Vielschichtigkeit), dem Umgang mit Mehrfacherkrankungen und komplexen Lebensumständen und Matters Most (Was zählt am meisten), der Berücksichtigung individueller Wünsche, Ziele und Lebensqualität.
Dies bedeutet, dass nicht jede Erkrankung und jedes geriatrische Problem bei allen Menschen gleich behandelt werden soll oder muss. Für den einen oder anderen ist manchmal weniger mehr. Umgekehrt kann eine zu zögerliche Haltung dazu führen, dass Beschwerden unnötig das Leben einschränken. Hier hilft das Gespräch im multiprofessionellen Team. Ärzte, Pflegekräfte, Physiotherapie und Sozialdienst – je nach Bedarf arbeiten unterschiedliche Fachleute zusammen, um eine möglichst individuell angepasste Versorgung zu ermöglichen.
Mein Appell: Nicht jeder über 65 ist automatisch alt oder gebrechlich. Entscheidend ist, wie fit man sich fühlt und wie gut man im Alltag zurechtkommt. Wer sich regelmäßig bewegt, sich ausgewogen ernährt, soziale Kontakte pflegt und seine Medikamente im Blick hat, kann sein biologisches Alter und seine Lebensqualität positiv beeinflussen.
Wenn Sie vermuten, dass Beschwerden bei Ihnen oder Angehörigen wohl zum Alter dazugehören, sprechen Sie mit Ihren Ärzten, denn es könnte dahinter eine behandelbare Krankheit stecken. In dem Beratungsgespräch sollten sich medizinische Entscheidungen dann nicht nach dem Geburtsdatum, sondern dem biologischen Alter richten. Denn das ist entscheidend für Gesundheit und Therapieerfolg.
PD Dr. Björn Bühring ist Chefarzt der Klinik für Internistische Rheumatologie am Cellitinnen-Krankenhaus St. Josef