Wuppertaler Geschichte Demokratie auf Abwegen

Detlef Vonde über Schule und Zeitgeist vor 1933.

Detlef Vonde ist Historiker und Leiter der Politischen Runde der Bergischen Volkshochschule. Er publiziert zu Themen der Urbanisierungsgeschichte, Bildungs- und Sozialgeschichte sowie zur Geschichte des Ruhrgebiets und des Bergischen Landes.

Foto: hammer/Anette Hammer/Freistil Fotografi

„Befinden wir uns im Jahr 1932?“ fragte unlängst der bekannte Historiker Michael Wildt in einer ebenso bekannten deutschen Wochenzeitung mit Blick auf den aktuellen Rechtsruck im Land. Nein. Geschichte sei nicht wirklich übertragbar. So die Antwort auf die selbst gestellte Frage. Zu groß die Unterschiede auf allen Ebenen. Aber: die Rückbesinnung auf die historischen Umstände und Rahmenbedingungen der Machtübertragung an die Nazis sei tatsächlich wichtig, um die aktuelle gesellschaftliche und politische Lage angemessen und aufmerksam zu beurteilen. Spektakuläre Aufmärsche von Rechtsextremisten im Schulterschluss mit Rechtspopulisten und „besorgten Bürgern“ wie unlängst in Chemnitz gab es auch vor 1933.

Damals allerdings begleitet vom offenen Straßenterror uniformierter Verbände der SA. Wichtiger aber erscheint die Einsicht in den eher schleichenden und gleichsam klammheimlichen Prozess der gesellschaftlichen Zustimmung zum Verfall der Demokratie als Nährboden für den aufsteigenden Faschismus: Ein vorauseilender Prozess der Selbstgleichschaltung. Dieser lässt sich auch im Wuppertal der späten zwanziger Jahre auf sehr unterschiedlichen Ebenen beobachten.

Ein bizarrer
Schulkampf

Der Wuppertaler Historiker Klaus Herbers erzählte vor vielen Jahren einmal die Geschichte eines nur auf den ersten Blick bizarren Schulkampfes, der den ins Autoritäre kippenden Zeitgeist am Ende der Weimarer Republik eindrucksvoll abbildete. Anfang 1931 ereignete sich am Realgymnasium Aue, einer Vorläufereinrichtung des heutigen Wuppertaler Carl-Fuhlrott-Gymnasiums, ein Fall von sogenannter „Disziplinlosigkeit“, der gegen die Symbole des alten Kaiserreiches gerichtet war und mit einem unerwarteten Schulverweis endete. Da hatten nämlich die Untersekundaner Otto Funke und Ernst Hoffmann am 19. Januar bei einer Feier zur Reichsgründung von 1871 es doch vorgezogen, weder die Nationalhymne mitzusingen, noch beim „Hoch auf Volk und Vaterland“ ergebenst aufzustehen.

Beide Schüler stammten aus sozialdemokratischem Milieu, der eine ein Sohn des Redakteurs und Stadtverordneten Oskar Hoffmann in der gerade frisch fusionierten Stadt Wuppertal. Der Fall schlug seltsam hohe Wellen in Schule, Elternschaft und Öffentlichkeit. Mehrere Konferenzen und sogar ein Votum des Provinzialschulkollegiums in Koblenz beließen die beiden beklagten Schüler zwar auf der Schule, bevor der geballt vorgebrachte Elternwille schließlich für den endgültigen Verweis von der Anstalt sorgte.

Antidemokratischer
Zeitgeist und Normalität

Was war passiert? Der „Fall“ war offenbar ins Agitationsfeld der Wuppertaler Nationalsozialisten geraten, die unter den Schülern der städtischen Schulen inzwischen erfolgreich Stimmung machten. Der Rektor befürchtete einen wilden Schulstreik, der gerüchteweise schon bestens vorbereitet war und bat das Provinzialschulkollegium um sofortige Hilfe. Eine inzwischen vierte Schulkonferenz unter dessen Vorsitz hob schließlich den Schulverweis zwar wieder auf und begnügte sich mit der bloßen Androhung. Beide Schüler aber verließen trotzdem und unfreiwillig die Schule. Sie schlossen sich in den Folgejahren dem Widerstand gegen den NS an.

Hoffmann wurde schließlich von der Gestapo verhaftet, saß über zwei Jahre in Haft, floh ins Prager Exil und wurde später ein bekannter Philosoph und Historiker in Berlin. Funke kam von 1933 bis 1937 in Haft. Sein Vater, der KPD-Widerstandskämpfer Ewald Funke, wurde 1937 in Berlin-Plötzensee von den Nazis ermordet. Eine unscheinbare Episode? Wohl kaum. Vielmehr lässt sich dieser lokale Schulkampf als typisch für das gesellschaftliche Klima in der politischen Wendezeit vor dem Sommer 1932 interpretieren: Noch waren die Würfel gegen die Demokratie nicht gefallen, der autoritäre Zeitgeist aber befand sich auf dem Weg in die „Normalität“.