Was glauben Sie denn? Die Ankunft

Dass Bahnfahren eine wahrhaft religiöse Dimension hat, bleibt vielen auf den ersten Blick wohl verborgen. Sicher: das Stoßgebet, der Zug möge pünktlich ankommen und zwar sowohl am Abfahrts- wie am Zielbahnhof, ist vielen Reisenden vertraut – vor allem, wenn man den Anschlusszug nicht verpassen möchte.

Dr. Werner Kleine - Freisteller

Foto: Christoph Schönbach

Bahnfahrende können sich so das ganze Jahr über adventlicher Stimmung hingeben. Die verheißene Ankunft des ersehnten Zuges, die hin und wieder vorkommenden Verspätungen (da soll die Bahn angeblich besser sein als ihr Ruf), das intensive Gemeinschaftserlebnis großer menschlicher Nähe auf engstem Raum – das alles ist von so adventlicher Prägung, dass der Bahnkunde an sich von tiefem adventlichen Wesen sein muss. Die Ankunft, so die deutsche Bedeutung des lateinischen Wortes „Adventus“, ist ersehnte Erfüllung einer Verheißung, die sich für Pendler sogar jeden Tag aufs Neue einstellt. Was glauben Sie denn?

Es ist wieder Advent, wie alle Jahre. Die Weihnachtsbüdchen stehen in Elberfeld und Barmen, bald auch in der Lüntenbeck, der Glühweinduft zieht durch die Gassen und am Kirchplatz kann man sogar Schlittschuhlaufen. Morgen fängt sie an, die stille Zeit. Morgen wird der Schalter umgelegt und dann muss es adventlich werden, heimlich, wohlig mit viel Lichterglanz. Morgen beginnt die Zeit, in der viele dann doch und (Gott sei Dank!) durch die voller werdenden Städte laufen und eilen und sich dabei denken, dass jetzt doch die stade Zeit sein sollte, die Zeit der Besinnlichkeit, die Zeit der Ruhe bis Weihnachten ankommt, jenes Fest des Friedens, dem sich jedes Jahr in Presse, Funk und Fernsehen Heerscharen von Ratgebern widmen, um präventiv den schlimmsten Auswüchsen dräuender familiärer Fehden entgegenzuwirken. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; noch schlimmer ist es, wenn zu viele Menschen auf zu engen Räumen aufeinander hocken und sich friedlich-weihnachtliche Stimmung auf Knopfdruck einstellen soll. Der Advent ist halt die Zeit der Erwartungen. Man freut sich so sehr und baut die Spannung auf, dass die Enttäuschung beim Ausbleiben des Erwarteten mindestens so groß ist, wie der spontan mitgeteilte Ausfall des erhofften Zuges auf Gleis 1, der erst fünf, dann zehn und dann dreißig Minuten verspätet eintreffen sollte.

Wahrlich: Der Advent hat es in sich. Gerade Kirchenleute wissen ja, wie man ihn begehen soll. Sie werden nicht müde, das immer wieder zu erklären. Der Advent soll keine Zeit des Konsums sein (Bitte schenken Sie sich und ihren Kindern also dieses Jahr nichts!). Er soll besinnlich sein (Treffen Sie sich nicht an Glühweinständen. Verlassen Sie das Haus nur zum Besuch adventlicher Konzerte!). So soll man sich vorbereiten auf das Weihnachtsfest (Also Tannenbäume erst zu Weihnachten! Wussten Sie schon, dass der Advent eigentlich eine Fastenzeit ist? Heilfasten zur Vorbeugung weihnachtlicher Völlerei wäre also angebracht!).

Sie ahnen es, liebe Leserin und lieber Leser, es gibt wohl kaum jemanden, der die frommen Ratschläge kirchlicher Kulturpessimisten so richtig ernst nimmt. Sie widersprechen vielleicht sogar dem eigentlichen Sinn des Adventes – jener Zeit, die der Verheißung der Ankunft Jesu Christi gewidmet ist. Der Advent bereitet auf das Weihnachtsfest als dem Fest der ersten Ankunft in der Menschwerdung Gottes vor. Christen erhoffen aber auch die Wiederkunft Jesu Christi, seine erneute Ankunft, um die Schöpfung zu vollenden. Kann man da wirklich still sitzen?

Für die frühen Christen war diese Hoffnung so real, dass sie diese Wiederkunft noch zu Lebzeiten erwarteten. Im Jahr 2019 ist die Christenheit gelassener geworden. Man hat sich an das Ausbleiben dieser Wiederkunft, die die Theologen „Parusie“ nennen, so gewöhnt wie an die Verspätung des nächsten Zuges. Irgendwann aber wird der Zug kommen, der einen ans Ziel bringt. Es gilt also, wachsam zu sein, damit man ihn, wenn er denn kommt, nicht verpasst. Dann muss man wieder rennen und eilen. Das ist Advent: Wachsam durchs Leben gehen, manchmal eilen und laufen. Und in der Wartezeit kann und soll man das Leben genießen – und zwar in vollen Zügen. In diesem Sinne: Eine frohe und gesegnete Adventszeit!