„Die Tunesier wollen eine Perspektive“
Nach dem Anschlag von Berlin stehen Länder wie Tunesien im Fokus der Diskussion. Ein Wuppertaler Verein hilft vor Ort.
Wuppertal. Seit der Tunesier Anis Amri am 19. Dezember des vergangenen Jahres mit einem LKW auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gefahren ist und zwölf Menschen getötet hat, schwillt die politische Debatte über die Abschiebung von abgelehnten Flüchtlingen etwa aus den Maghreb-Staaten an. SPD-Minister aus der Bundesregierung wollen den Druck auf Länder wie Tunesien, Algerien und Marokko erhöhen, ihre Staatsbürger wieder aufzunehmen. Notfalls soll das über eine Kürzung der Entwicklungshilfe geschehen. Ausgerechnet der CSU—Mann im Entwicklungshilfeministerium, Gerd Müller, warnt aber davor. Er sagte, man solle die Region vor allem unterstützen und stabilisieren.
Eine Position, die man auch aus Wuppertal — unabhängig von der neusten Debatte — zu hören bekommt. Denn Wuppertal hat bereits seit 2011 einen Verein, der sich um Tunesien bemüht, vor allem um die Städtepartnerschaft zur Nordtunesischen Stadt Tabarka. So heißt der Verein auch: Tabarka e.V.
Der Landtagsabgeordnete Dietmar Bell (SPD) ist Vorsitzender des Vereins. Er sieht Tunesien als Land mit vielen Chancen und guten Ansätzen. Nach der Revolution von 2011, bei der der Machthaber Ben Ali gestürzt worden ist, habe das Land sich zu einem „sehr spannenden Demokratielabor“ entwickelt, sagt Bell. Die 2014 verabschiedete Verfassung sei sehr fortschrittlich und etwa bei der Frauenförderung der Deutschen weit voraus. „Das Land ist der einzige Anker für eine demokratische Kultur in der Region“, sagt Bell. Daher müsse das Land unterstützt werden.
Dass es durchaus Sorgen über islamistischen Terror aus Tunesien gebe, versteht Bell. Er sieht das in der höhen Arbeitslosigkeit begründet, die trotz guter Ausbildungen bei bis zu 80 Prozent unter jungen menschen liege. „Die Generation ist radikalisierungsanfällig.“ Er hält aber dagegen, dass man zwischen Tätern und Opfern unterscheiden müsse. „Tunesien ist selbst Opfer von Anschlägen, von Terrorismus — genau wie Deutschland.“ Das sei einer der Gründe, warum der Tourismus, „der einzige Devisenbringer“ für das Land, zusammengebrochen sei. „Wir dürfen da nicht alle über einen Kamm scheren“, mahnt er zur Differenzierung.
Fragt man im Innenministerium NRW hört man ebenfalls von einer Sonderstellung Tunesiens unter den Maghreb-Staaten. Oliver Moritz, Sprecher für Ausländerangelegenheiten sagt erst einmal grundsätzlich: „Die Nationalität ist kein Kriterium für Radikalisierung.“ Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Auch in Sachen Asyl seien Tunesier keine nennenswerte Große. In NRW habe es im Jahr 2016 vier Asylanträge von Tunesiern gegeben. Allerdings sagt Moritz, dass Rückführungen nach Tunesien durchaus problematisch seien — wie auch der Fall Amri gezeigt habe. Trotzdem: „Tunesien ist kein Fluchtland“.
Um die ohnehin vergleichsweise guten Verhältnisse zu stabilisieren, unterstützen Bell und der Verein die Stadt im Norden Tunesiens. Erst vergangene Woche sei eine junge Frau nach Tunesien zurückgekehrt, die ein halbes Jahr in Wuppertal zu Gast war. „Wir müssen die Ausbildung und den Spracherwerb fördern“, erklärt Bell. „Es geht darum, Brückenköpfe zu schaffen — Menschen, mit denen wir arbeiten können, wenn europäische Projekte dort anstehen.“
Generell sieht Bell einen Schlüssel zur Unterstützung in der Bildung, um Chancen zu schaffen. „Die jungen Menschen in Tunesien wollen eine Perspektive“, sagt Bell. Um diese zu schaffen, unterstützt der Verein vor allem dezentrale Projekte, hilft etwa dabei, einen Schulbus zu organisieren, damit die Kinder dort den Schulweg zurücklegen können — „das sind zehn Kilometer pro Weg“, schildert Bell, der selbst schon etwa zwölf Mal mit in Tunesien war. So haben die Kinder eine Chance, die Schule zu besuchen.
Auch mit Blick auf die Asyldebatte sagt Bell, es mache mehr Sinn, in „Beschäftigungsprojekte für junge Menschen in Tunesien zu investieren, statt abgelehnten Asylbewerbern mehrere Jahre in Deutschland Sozialtransferleistungen dafür zu gewähren, dass sie hier keiner Beschäftigung nachkommen können.“