Die Nordbahntrasse zeigte sich im Bereich Oberbarmen jetzt anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Wichernkapelle von ihrer schönsten Seite. Besinnliches zum Verhältnis von Religion und Politik standen ebenso auf dem Programm, wie eine kleine Jubiläumsfeier als Möglichkeit der Begegnung von Bürgern oder auch „Durchreisenden“.
Auf den Rasenflächen hatten es sich schon Familien und Paare für ein frühlingshaftes Sonnenbad gemütlich gemacht, Radfahrer radelten unter dem blauen Frühlingshimmel über die Trasse. Vergnügtes Kinderlachen mischte sich mit den heiser-melancholischen Saxophon-Klängen, die Andre Enthöfer in dem locker umbauten kleinen Kirchenraum seinem Instrument entlockte. „What A Wonderful World“, vom Großmeister an der Jazztrompete, Louis Armstrong, erstmals 1967 veröffentlicht, war gleichzeitig die musikalische Botschaft und Bilanz des Augenblicks.
Vor der Kapelle leuchteten die mit schneeweißen Hussen bezogenen Stehtische, und unter den Pagodenzelten dampfte es aus Töpfen und Menagen. Die Geschäftsführerin des Wichernhaus Wuppertal, Regine Widmeyer-Wagner, bedankte sich beim engagierten Team aus dem eigenen Haus für das Catering und den perfekt gestalteten Rahmen der Freiluftfeier.
Gemeinsam mit dem pensionierten Unterbarmer Pfarrer Dieter Albat und dem stellvertretenden Direktor des Bonner evangelischen Institut für berufsorientierte Religionspädagogik, Andreas Obermann, gestaltete Regine Widmeyer-Wagner die besinnliche Stunde der Begegnung.
Die gläsernen Wände, die den Baukörper trassenseitig wie ein transparenter Lamellenvorhang begrenzen, animierten Vorbeikommende, die Hände gegen das Glas zu legen und einen Blick ins Innere der Kapelle zu werfen. Transparente Lamellen wechseln mit satiniertem Glas, Glasbahnen in den Grundfarben Rot, Gelb und Blau bilden farbige Akzente. In die aus Holzbohlen gezimmerte Rückwand und die Stirnseiten sind Psalmsprüche eingraviert, Besinnliches in die Glaselemente der Rückwand ziseliert: „Zur Ruhe kommen, Beten, Singen, eine Kerze anzünden, Andacht halten, Wasser trinken“, versinnbildlicht die Möglichkeiten, die die modern gestaltete Trassenkapelle den Besuchern bietet. „Gott wohnt in den Menschen und ihren Begegnungen“, interpretierte Dieter Albat den Psalm 26, Vers 8: „Herr, ich liebe den Ort, wo dein Tempel steht, die Stätte, wo deine Herrlichkeit wohnt.“ Die Bibelstelle war Ausgangspunkt für eine Bestandsaufnahme zu Begegnungsmöglichkeiten einer bunten Stadtgesellschaft, zu religionsübergreifendem Austausch von Menschen und der Möglichkeit, sich an diesem Ort von Gott ansprechen zu lassen.
Ein Ort der Ruhe zwischen Andacht und Alltag
Als „kleines, feines Haus Gottes“ bezeichnete Albat die Wichernkapelle, die auf einer Idee des ehemaligen Geschäftsführers des Wichernhauses, Johann Wagner, basiert. Schutz vor Regen, Neugier, Haltepunkt und Andachtshaus oder die Faszination der Abendbeleuchtung seien nur einige der Motive, aus denen heraus Trassennutzer die „Fahrradkapelle“ besuchten, erläuterte Dieter Albat im Rahmen seiner eigenen „Liebeserklärung“ an einen Ort, von dem er ebenfalls weiß: „Dieser Ort wird nicht von allen gemocht!“. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen seien die Menschen aufgefordert, sich aufzurichten und anderen beim Aufrichten zu helfen. „Die Stadt braucht Orte zum Aufrichten, und diese Kapelle ist ein Ort dafür“, forderte er und bezeichnete die Wichernkapelle als „Influenzerin fürs Aufrichten“.
In seinem Exkurs über das Verhältnis von Religion und Demokratie spürte Andreas Obermann der Frage nach, inwieweit die Demokratie Religion brauche und umgekehrt. Eine gegenwärtig oft fehlende Religionstoleranz konkretisierte er an der Notwendigkeit, etwa die Synagoge in Wuppertal dauerhaft gegen Angriffe schützen zu müssen. „Demokratie braucht Religion, wenn diese Demokratie unterstützt!“ war eine Aussage Obermanns, die intolerante Religionen als demokratiefeindlich auswies. Religionen, die „Pluralitätsfähigkeit“ besitzen und die Selbstbestimmung fördern, seien für die Demokratie unerlässlich. Das Treiben auf der Trasse während der Feier wollte der Religionspädagoge als Metapher verstanden wissen: „Ich habe eine Vision von der Trassenkapelle als einem gemeinsamen Ort aller Religionen, der zur Vielfalt des Ortes hier passt: Dieses wunderbare Gebäude als Ort der Besinnung aller Religionen und der Begegnung aller Menschen - die Kapelle als „Haus der Religionen“, als ein interreligiöses Zeichen gelebter Demokratie.“