Tine Lowisch schildert ihre Gedanken zum Unwort des Jahres 2010 Kennen Sie das TINA-Prinzip?

Wuppertal · Tine Lowisch macht sich Gedanken über das Unwort des Jahres 2010.

Tine Lowisch vom Freien Netzwerk Kultur in Wuppertal.

Foto: CLAUDIA SCHEER VAN ERP

Als ich im Sommer in einer Rezension von einem Prinzip, das TINA heißt, gelesen habe, habe ich den Text, der mir ein ganz besonderes Buch empfiehlt, sofort zur Seite geworfen und die ersten Sätze, die ich nur oberflächlich überflogen hatte, einfach verdrängt. Ganz sicher hing meine spontane Reaktion damit zusammen, das mich die Aufschlüsselung des Akronyms, dieses vertraut daherkommende Wörtchen, dieser vermeintlich kosende Rufname aus Anfangsbuchstaben einer übersetzten Behauptung, dieses TINA – There Is No Alternative – Dings geradezu brüsk entrüstet hatte. Keine Ahnung warum, aber es trifft mich jedes Mal bitter, wenn mich jemand Tina nennt. Das ist dann so, als würde ich mich in einem Raum mit jemandem befinden, der mir das Gefühl gibt, ich würde alles falsch machen. Ja, man wird empfindsam dieser Tage in Klausur.

Erst vor ein paar Tagen, beim Altpapier und Lesestoff entrümpeln, habe ich dann den TINA-Text wiedergefunden und ihn, sozusagen um ihn zu überwinden, bei dieser Gelegenheit noch einmal genauer durchforstet. Da stand, fast im letzten Satz: „Das TINA-Prinzip ist es, das wir angesichts des Corona-induzierten Ausnahmezustands durchbrechen sollten.“  Was für eine Erlösung. Beim zweiten Leseanlauf geht es zu meiner Überraschung doch wohl eher darum, das TINA-Prinzip, das in unserer kapitalistischen Lebensweise immer noch wirkt, aus Überzeugung abzuschaffen und zu überwinden.

Was genau heißt das jetzt und worum geht es da? Nimmt man zum Beispiel Themen, die die Lebensqualität ausmachen, Themen wie Gesundheit, Bildung, Kultur und Wohnen und überlässt sie nicht mehr nur dem neoliberalen Markt, kippt man so wohl dieses TINA-Prinzip. Und auf einmal hört sich das Ganze für mich perfekt und dermaßen spannend an, das ich mir das dazu passende Buch von Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, es erschien allerdings schon 2013 bei Suhrkamp, sofort wie elektrisiert, unter den Weihnachtsbaum bestelle. Überhaupt, das Lesen und das Schreiben, das ist so eine schöne und produktive Sache. Nicht so schön in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass nur wenige fürs Lesen bezahlt werden und noch weniger gibt es fürs Schreiben. Angesichts einer postnormalen Welt, in der wir ab jetzt leben werden, wird mir das von Tag zu Tag immer unverständlicher, bei all der Menge an Inhalten, die man ehrlicherweise ohne professionelle Unterstützung alleine gar nicht mehr schaffen kann zu begreifen. Ich denke, das unterschreibt mir Sascha Lobo sofort, der in seiner Kolumne für das Magazin Spiegel vor zwei Wochen schrieb: „Traditionell schmückt sich die deutsche Politik gern mit allem Kreativen und den Innovationsleistungen von Selbstständigen. Allerdings nur, wenn sie erfolgreich sind, weil sie dann kaum Ansprüche stellen. Auf keinen Fall aber sollte man erwarten, dass im angeblichen Land der Dichter und Denker das Dichten und Denken prinzipiell angemessen wertgeschätzt und in der Folge auch bezahlt wird – was eher kein Problem des Marktes, sondern ein systemisches Problem ist.“

Ich, TINE (This Is Never  Ending) antworte dazu: TINA, es kostet uns prinzipiell nicht viel, auf dich als erkanntes, strukturelles Problem zu verzichten und ich freue mich jetzt mit großem TATA (There Are Thousands of Alternatives) auf diese Weihnachtsgeschichte in meinem neuen Buch.