Herrmann Heinrich Becker, genannt „der Rote“ Über die erstaunliche Karriere eines politischen Häftlings

Wuppertal · Detlef Vonde über die Hermann Heinrich Becker, genannt „der Rote“.

 Hermann Heinrich Becker – hier ein Ölgemälde von Julius Schrader um 1878 – war einer der prominentesten Politiker im Rheinland und Westfalen des 19. Jahrhunderts.

Hermann Heinrich Becker – hier ein Ölgemälde von Julius Schrader um 1878 – war einer der prominentesten Politiker im Rheinland und Westfalen des 19. Jahrhunderts.

Foto: Public Domain

Am 15. September 1820 wird in Elberfeld ein gewisser Hermann Heinrich Becker als Sohn einer Arztfamilie geboren, der es später zu einem der prominentesten Politiker im Rheinland und Westfalen des 19. Jahrhunderts bringen sollte. Innerhalb weniger Jahre gelingt ihm eine erstaunliche berufliche und politische Karriere vom zu Unrecht verurteilten und als „gemeingefährlich“ eingestuften „Staatsfeind“ zum hoch renommierten Politiker im Kaiserreich.

Beckers schillernde Biografie ist die eines bürgerlichen Exponenten des 19. Jahrhunderts und entspricht in seinen widersprüchlichen Facetten der ganzen Ambivalenz seines politischen Standes zwischen Modernisierung, Anpassung und Beharrung. Diese Karriere ist deshalb so erstaunlich, weil sein Lebensweg über zahlreiche Nebengleise, Wege und gelegentliche Abwege mit widersprüchlichen biografischen Weichenstellungen auf der politischen Erfolgsleiter des Bürgertums dann steil nach oben führte. Den ebenso schmückenden wie aus anderer Perspektive despektierlichen Beinamen „der Rote“ erhält er von Sympathisanten wie politischen Gegnern gleichermaßen wegen seiner sozialpolitischen Grundeinstellungen, die er allerdings in wechselnden politischen Lagern vertreten konnte. Obwohl bestens bekannt mit Karl Marx und Friedrich Engels, sowie einer der Hauptangeklagten und schließlich Verurteilten im Kölner „Kommunistenprozess“ von 1850 war er –wenngleich Mitglied im „Bund der Kommunisten“, einer Geheimorganisation von wandernden Handwerkern und emigrierten Intellektuellen – beileibe eben kein solcher.

Gymnasiast, Duellant, Student und Burschenschaftler

Karl Marx hatte für den Geheimbund das „Manifest der Kommunistischen Partei“ geschrieben, ein Kernthema der politischen Differenzen mit Becker, der andererseits als Herausgeber einiger Aufsätze eben diesem Karl Marx Publizität verschaffte. So war Beckers prominenter Spitzname wohl eher seinem wilden roten Haupthaar geschuldet als der politischen Sache, für die er von der preußischen Justiz dann verurteilt wurde.

Sein geradezu atemberaubender Lebenslauf im Schnelldurchgang: renitenter Gymnasiast in Soest, illegaler Duellant, Schulabgänger wider Willen qua Verweis, Jura-Student in Heidelberg, Bonn und Berlin, progressiver Burschenschaftler, entschiedener Republikaner und Demokrat, enge Bekanntschaft mit Friedrich Engels und Wilhelm Wolff, Mitglied der Kölner Bürgerwehr, Redakteur und Mitbegründer der auflagenstarken, antipreußischen Westdeutschen Zeitung, prominenter 48er Revolutionär im Kölner Sicherheitsausschuss, Angeklagter im dortigen „Kommunistenprozess“ von 1850, verurteilt aufgrund gefälschter Beweismittel mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und Betretungsverbot der Stadt Köln, fünf Jahre lang politischer Häftling in einer Festung bei Danzig, gescheiterter Fluchtversuch, danach vollständiger Haftvollzug und schließlich Entlassung mit gravierenden Gesundheitsschäden – sein biografisches Schlüsselerlebnis.

Becker lässt sich als erfolgreicher Kaufmann in Dortmund nieder, wird Mit­glied der Deutschen Fort­schritts­par­tei und sukzessive ins Preu­ßi­sche Ab­ge­ord­ne­ten­haus, in den Norddeutschen und später Deutschen Reichstag gewählt. Dort konvertiert er ins Lager der Nationalliberalen und wird zum glühenden Sympathisanten der Reichsgründungspläne von Bismarck. Dieser Politikwechsel eröffnet neue Karriereperspektiven: 1871 zunächst Oberbürgermeister von Dortmund, ab 1875 dann als OB von Köln, Mitglied des preußischen Herrenhauses und vor Ort ein konsequenter Modernisierer, erfolgreicher Stadtentwickler sowie engagierter Sozial- und Wirtschaftspolitiker. Aber für Kölner vielleicht am allerwichtigsten: In seiner Amtszeit als Oberhaupt der Stadt wird 1880 der Dom fertig gestellt. Das sichert dem einst verbannten Lokalpolitiker mit Elberfelder Wurzeln schließlich einen festen Platz in der Stadtgeschichte und bringt sein Konterfei als kleine Skulptur an die Fassade des Kölner Rathauses. 1884 erkrankt der erst spät verheiratete „rote Becker“ an Tuberkulose. Ein Jahr später verstirbt er, seit Haftzeiten „Risikopatient“, an dieser epidemischen „Krankheit der Armen“ wenige Tage vor Weihnachten.